Europawahl 2024Die Stimmung der Bürger

Die EU – von ihren Bürgern geliebt und geschmäht

Europa ist für die allermeisten Bürger der Garant für Frieden und Demokratie. Wenn es aber um konkrete Themen wie Migration geht, nehmen Misstrauen und Entfremdung zu. Gerade junge Menschen scheinen hier in ein gefährliches politisches Fahrwasser zu geraten.

Die EU – von ihren Bürgern geliebt und geschmäht

Serie: Countdown zur Europawahl (Teil 4)

Die EU – von ihren Bürgern geliebt und geschmäht

Umfragen bescheinigen den Brüsseler Institutionen in der Bevölkerung großes Vertrauen, sofern abstrakt genug gefragt wird

Von Stephan Lorz, Frankfurt
lz Frankfurt

Europa ist für die allermeisten Bürger der Garant für Frieden und Demokratie. Wenn es aber um konkrete Themen wie Migration geht, nehmen Misstrauen und Entfremdung zu. Gerade auch junge Menschen scheinen durch Populisten und Rechtsextreme in ein gefährliches politisches Fahrwasser zu geraten.

Wenn man offizielle Stimmungsumfragen über Europa betrachtet, scheint eigentlich alles in bester Ordnung: So hat sich das Image des Europaparlaments laut Eurobarometer, einer Befragungsserie der EU-Kommission, weiter verbessert auf jetzt 41%; nur 18% haben eine negative Sichtweise. 55% äußern sich optimistisch zur Zukunft der EU, nur 42% geben „Bedenken“ zu Protokoll. Eine ähnlich große Mehrheit bekundet „Vertrauen“ zur EU als Institution, allerdings ist ein gutes Drittel auch „distanziert“. Gleichzeitig befürworten über 80% eine stärkere Rolle der EU. Die Präsidentin des Europaparlaments, Roberta Metsola, sieht darin den Auftrag, die EU-Zuständigkeiten noch auszuweiten.

Große Unterschiede zwischen den Ländern

Also alles in bester Ordnung? Natürlich verstecken sich hinter den aggregierten EU-Zahlen erst einmal große Varianzen innerhalb der Ländergemeinschaft: In Italien, Bulgarien, Rumänien und Kroatien fällt das Ansehen des Europaparlaments deutlich schlechter aus als in Griechenland, Portugal, Deutschland und Polen. Interessanterweise liegen die positiven Wertungen in Ungarn sogar höher als im EU-Schnitt. Das ist umso beruhigender, als negative Statements zur EU oft herausgegriffen und gerne für den politischen Diskurs einzelner Mitgliedstaaten instrumentalisiert werden.

Die Umfragen zeigen aber auch, dass sich die eigene Befindlichkeit im Hinblick auf die EU stark unterscheidet von der politischen Haltung zu einzelnen Entscheidungen oder Themenkomplexen der EU-Institutionen. Im ersten Fall scheinen die EU-Bürger nur gute Erfahrungen zu machen. Das betrifft vor allem Freizügigkeit, Reisen, Ortswechsel über Grenzen hinweg und das gemeinsame Geld. Letzteres hatte anfangs zunächst für Irritationen gesorgt. Jetzt ist das Gemeinschaftsgeld im praktischen Gebrauch das verbindende Element, das Reisen und den Handel vereinfacht.

Deutschland sticht hervor

Deutschland, das schon von seiner kontinentalen Mittellage her und wegen der Größe seiner Volkswirtschaft vom europäischen Binnenmarkt besonders stark profitiert, sticht auch jenseits von Eurobarometer in seiner positiven Grundhaltung zur EU heraus. Dem Politbarometer von April zufolge wünschen sich 57% der Befragten sogar einen noch engeren Zusammenschluss der Mitgliedstaaten, nur 25% sind für mehr Eigenständigkeit. Für eine Mehrheit von 52% bringt die EU „vor allem Vorteile“, nur für 13% stehen die Nachteile im Vordergrund.  78% der Deutschen fühlen sich obendrein als Bürgerin oder Bürger der EU; europaweit liegt dieser Wert bei 72%.

Negative Einschätzungen zur EU treten stets dann zutage – in Deutschland und anderswo in Europa –, wenn es um Themen geht, die Bürger politisch konkret beschäftigen. ARD/Infratest-Dimap hatte vor wenigen Tagen die Zufriedenheit der Deutschen abgefragt, die abstrakte Meinung dazu aber mit aktuellen Themen wie Migration in Zusammenhang verknüpft. Danach äußern sich dann zwei Drittel der Wahlberechtigten insgesamt eher „unzufrieden“ mit der Politik auf EU-Ebene, nur ein Drittel zeigt sich „eher zufrieden“.

Zuwanderung ganz oben auf der Agenda

Das hängt offenbar mit den „Problemthemen“ zusammen, die in ihrer Priorisierung genannt werden: Die Zuwanderung steht oft ganz oben auf der Agenda (anders als bei den „Wunschthemen“, dort ist es die Armut), weil dies natürlich auch innenpolitisch hohe Wellen schlägt und von persönlichen Eindrücken geprägt ist. Das Themenfeld „Konflikt- und Bedrohungslagen“ folgt auf dem Fuß, der Komplex Klimathemen muss sich demgegenüber weiter hinten einreihen.

Dass die Bewältigung der Migration eine schwärende Wunde in der Europapolitik ist, zeigt sich aber auch im Eurobarometer: Die Zustimmung für härtere Maßnahmen gegen die Migration ist deutlich gestiegen auf inzwischen 75%. Nach der Eurobarometer-Liste rangieren hinter Migration die Themen Ukraine (28%), internationale Situation und Konflikte (24%), dann Teuerung (20%) und erst danach das Klima (16%).

Angst vor Überfremdung

Soziologen verweisen darauf, dass die Angst vor Überfremdung und das Gefühl der Fremdbestimmung durch die EU eine Rolle spielen könnten. Das aber ist in den Umfragen oft nicht so recht zu greifen – auch, weil die Präferenzen nicht immer offen geäußert werden. In einer Tiefenumfrage des Linzer Market-Instituts in Österreich wird es deutlicher: Verbanden vor 30 Jahren noch 49% der Österreicher „Europa“ mit dem Begriff „Zukunft“, sind es aktuell nur noch 30%. 63% der Befragten gaben an, dass ihnen „die ganze Richtung“ nicht mehr gefällt, in die sich Europa entwickelt.

Zu denken gibt die Haltung der Jugendlichen. Sie blicken nicht mehr so optimistisch wie einst auf die europäische Gemeinschaft und neigen stärker zu extremen Parteien als früher. Nach dem ARD-Deutschlandtrend können sich 22% der jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren inzwischen vorstellen, die AfD zu wählen, 2022 waren es noch 9%. Auch das Spektrum der relevanten EU-Themen hat sich entsprechend dem der Erwachsenen „angepasst“: Inflation ist ihnen am wichtigsten, dann Krieg, Wohnraum, Spaltung der Gesellschaft und erst an fünfter Stelle der Klimawandel. Der Soziologe Klaus Hurrelmann spricht von einem „deutlichen Rechtsruck der jungen Bevölkerung“.

Rechtsextremer kommt bei Jugendlichen sehr gut an

Das zeigt sich auch im Wahlkampf. Jordan Bardella, Europa-Spitzenkandidat der rechtsextremen französischen Partei Rassemblement National kommt in Frankreich bei den Jugendlich sehr gut an. Veranstaltungen ähneln eher Pop-Konzerten mit Groupies und Fangruppen. Auch in den Niederlanden wächst die Zustimmung unter Jugendlichen zu rechtem Gedankengut.

Das liegt nach Ansicht von Demoskopen wohl am Nachrichtenkonsum. 51% der Jugendlichen informieren sich vorwiegend über Tiktok. Die sozialen Medien umschiffen etablierte Medien und ermöglichen es Populisten, rechte Positionen widerspruchsfrei zu äußern, vielfach verstärkt durch Algorithmen´der Portale.

Reisen bildet – aber nicht die politische Haltung

Immerhin zeigen sich die Jugendlichen aber weiterhin begierig darauf, Europa zu erfahren über Aktivitäten wie Reisen, Bildung oder Arbeitsaufenthalte. Mehr als 43% haben an einer solchen Aktivität in einem anderen EU-Land schon teilgenommen. Aber die politische Haltung scheint das nicht mehr so zu beeinflussen. Früher hieß es, wer in jungen Jahren nicht links ist, habe kein Herz, wer in älteren Semestern immer noch links ist, keinen Verstand. Zumindest scheint „links“ als bevorzugtes Attribut junger Menschen inzwischen an Anziehungskraft verloren zu haben.

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