Die EZB und die Produktionslücke

Forschungspapier schätzt Unterauslastung deutlich größer ein als IWF & Co - Umstrittenes Konzept

Die EZB und die Produktionslücke

Von Mark Schrörs, FrankfurtDie sogenannte Produktionslücke – englisch: output gap – gehört zu den meistdiskutierten und zugleich umstrittensten makroökonomischen Konzepten. Grund ist, dass diese Lücke, die die Abweichung der tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivität vom Potenzialwachstum bestimmt, in Echtzeit nicht gemessen werden kann, sondern geschätzt werden muss. Schätzungen, die sich im Nachhinein allerdings häufig als falsch herausstellen. Große Rolle in der PraxisTrotzdem spielt die Produktionslücke heutzutage in der konkreten Wirtschaftspolitik eine große Rolle. Auch führende Vertreter der Europäischen Zentralbank (EZB) verweisen immer wieder darauf, dass es im Euroraum eine hohe Unterauslastung der Wirtschaft gebe, die den ultralockeren Kurs der Notenbank rechtfertige – weil sie mit geringem Inflationsdruck oder gar Deflationsgefahren korreliere. Unlängst wurde Italiens Notenbankpräsident Ignazio Visco mit den Worten zitiert, es gebe eine “erhebliche Produktionslücke”.In diesen Tagen nun hat die EZB einen Forschungsbeitrag veröffentlicht, der die Lücke im Euroraum zu bestimmen versucht. Das Ergebnis: 2014 und 2015 habe der Output um 6 % unterhalb des Potenzials gelegen. Das ergebe sich aus Modellen zur Lücke, die in der Vergangenheit am besten geeignet waren, die Inflation vorherzusagen. Die Produktionslücke sei damit deutlich größer, als es Schätzungen internationaler Organisationen unterstellten – die diese für den Zeitraum auf – 2 % bis – 3 % taxierten (siehe Grafik).Und die beiden Autoren Marek Jarocinski und Michele Lenza aus der EZB-Forschungsabteilung halten auch gleich den passenden politischen Ratschlag bereit: Politiken, die der Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage dienten, “sollten im wirtschaftspolitischen Mix eine noch wichtigere Rolle spielen”. Konkret sprechen sie die Fiskal- und die Geldpolitik an. In jedem Fall, so ihre Botschaft, reiche es aktuell nicht aus, nur auf angebotseitige Politiken zu setzen mit dem Ziel, das Potenzialwachstum zu erhöhen.Äußerst bemerkenswert ist das Papier insbesondere, weil es zu einer Zeit kommt, da ohnehin erneut eine intensive Diskussion geführt wird, ob die EZB ihre bereits ultraexpansive Geldpolitik noch weiter lockern sollte. Das Ergebnis der Untersuchung stützt nun solche Überlegungen in Richtung und Forderungen an die EZB. Der EZB-Rat trifft sich am 21. Juli erneut zur geldpolitischen Beratung – zum ersten Mal seit der Entscheidung der Briten für einen EU-Austritt. Die Notenbanker selbst drängen zudem zunehmend die Politik zu Strukturreformen, um die Wirtschaft nachhaltig anzukurbeln.Bemerkenswert ist das Papier aber auch deshalb, weil die EZB-Volkswirte erst im vergangenen September im EZB-Wirtschaftsbericht einen Beitrag veröffentlicht hatten, der basierend auf einem eigenen Indikator zu dem Ergebnis gelangt war, dass die Unterauslastung deutlich geringer sei als von internationalen Organisationen geschätzt. Dieser EZB-Index, der Bezug nimmt auf Umfragen unter Unternehmen, inwieweit eine unzureichende Nachfrage ihre Produktion beeinträchtigt, liege sogar nahe am Normalwachstum (siehe Grafik). Vorsicht angemahntDas starke Auseinanderklaffen der beiden EZB-Einschätzungen belegt damit letztlich, wie groß die Unsicherheit bei dem Thema ist. Damit gilt umso mehr, was die Bundesbank mit Blick auf Schätzungen zur Produktionslücke unter anderem im Monatsbericht April 2014 festgehalten hat: “Angesichts dieser Unsicherheit ist in der wirtschaftspolitischen Praxis, (…) auch im geldpolitischen Kontext, entsprechend große Vorsicht im Umgang mit derartigen Schätzungen geboten.” Die EZB-Volkswirte hatten im September 2015 ebenfalls zur Vorsicht gemahnt.Auch der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing warnte dieser Tage erneut vor Prognosemodellen, in denen die Auslastung der volkswirtschaftlichen Kapazität von zentraler Bedeutung ist. “In den 1970er Jahren ist die Inflationsrate auch gestiegen, weil die US-Notenbank sich von Schätzungen leiten ließ, wonach in der Wirtschaft noch jede Menge Luft vorhanden war”, sagte Issing der Wochenzeitung “Die Zeit” – “dabei waren die Kapazitäten voll ausgelastet”.