Die EZB zwischen Reggae-Beats und Klimawandel

Von Mark Schrörs, Frankfurt Börsen-Zeitung, 22.10.2020 Die Zentralbank von Jamaika als Vorbild für die Europäische Zentralbank (EZB)? Nun, die Inflation von 3,9 % im Jahr 2019 dürfte wohl auch den meisten Euro-Hütern zu hoch sein - so wie ihnen die...

Die EZB zwischen Reggae-Beats und Klimawandel

Von Mark Schrörs, FrankfurtDie Zentralbank von Jamaika als Vorbild für die Europäische Zentralbank (EZB)? Nun, die Inflation von 3,9 % im Jahr 2019 dürfte wohl auch den meisten Euro-Hütern zu hoch sein – so wie ihnen die aktuell – 0,3 % in Euroland viel zu niedrig sind. Als aber bei der gestrigen großen Debatte der EZB mit Vertretern der Zivilgesellschaft Robert Manchin, Präsident von Culture Action Europe, das Wort ergreift, sagt EZB-Präsidentin Christine Lagarde, dass auch die Kultur zum besseren Verständnis der Geldpolitik beitragen könne – und sie nennt Videos der Bank of Jamaica als Beispiel, die auch auf Youtube zu finden sind. In einem singt die in Jamaika sehr populäre Sängerin Denyque zu Reggae-Dancehall-Beats über Inflation: “Wir wollen sie nicht zu hoch. Wir wollen sie nicht zu niedrig. Eine stabile und vorhersehbare Inflation ist der richtige Weg.”Insgesamt zwei Stunden diskutieren Lagarde und EZB-Chefvolkswirt Philip Lane mit Vertretern verschiedenster Organisationen. “ECB listens”, übersetzt: “Die EZB hört zu” – so lautet das Motto der Debatte, die Teil der ersten großen Strategieüberprüfung der EZB seit 2003 ist und die der Auftakt für ähnliche Veranstaltungen der 19 nationalen Zentralbanken sein soll. Eigentlich hatte die Veranstaltung im März stattfinden sollen, in Brüssel. Aber auch da machte Corona einen Strich durch die Rechnung. Statt März ist es jetzt Oktober und statt einer Konferenz ist es eine virtuelle Debatte.Lagarde und Lane sitzen also in einem kleinen TV-Studio, das die EZB eigens für solche Events in ihrem Pressesaal eingerichtet hat. Die Wände in kräftigem Blau, an einer Seite eine Europa-Fahne und in großen weißen Lettern “ECB listens”. Über große Monitore werden die Teilnehmer zugeschaltet. Lagarde und Lane sitzen mit Abstand zueinander in ihren Stühlen, hören aufmerksam zu und machen sich Notizen. Lane hat sogar zwei Hefte auf seinem Schoß liegen – ein schwarzes und ein rotes. Immer wieder wechselt er.Der Euro sei das “gemeinsame Gut” aller Bürger und die EZB die “Hüterin” dieses Guts, sagt Lagarde gleich zum Auftakt dazu, warum die EZB den Dialog mit Unternehmensvertretern, Verbraucherschützern, Umweltaktivisten, Kulturschaffenden und vielen mehr sucht. Tatsächlich hatte sie von Anfang an klargemacht, dass sie dieses Mal nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Ökonomen und Wissenschaftler beteiligen will. Diese Form des Dialogs sei “überfällig”, sagt auch Lane.Dann geht es Schlag auf Schlag. In schneller Folge werden die Teilnehmer von Moderatorin Jacki Davis aufgerufen und eingeblendet – aus Büros, Arbeitszimmern oder aus Wohn- und Kinderzimmern. Als Kulturaktivist Manchin zugeschaltet wird, macht Lagarde ihm Komplimente für den großen Wandteppich im Hintergrund. Die Teilnehmer haben nur ein, zwei Minuten. In der ersten Stunde geht es um das Thema “Geldpolitik und Kommunikation”, in der zweiten um “Globale Herausforderungen für die Zentralbank”. Auch wenn die Debatte einem Husarenritt durch die Themen gleicht, weil fast jeder ein anderes Anliegen hat, ist sie recht strukturiert.Beim Thema Geldpolitik und Kommunikation lobt Markus Beyrer von Businesseurope die ultralockere Geldpolitik, während Guillaume Prache von Better Finance von einer “beispiellosen finanziellen Repression” spricht, die vor allem die Mittelklasse treffe und damit den Aufstieg “antidemokratischer Kräfte” fördere.Vor allem aber geht es in der Runde immer wieder um die Frage, warum die EZB zumeist über die Banken interveniert und nicht der Realwirtschaft direkt hilft. Die EZB-Liquidität bleibe bei den Banken stecken, die die Wirtschaft immer weniger unterstützten, kritisiert Thierry Philipponnat von Finance Watch. Stanislas Jourdan von Positive Money erneuert die Forderung nach direkten Geldtransfers der EZB an alle Bürger. Lane widerspricht dem Eindruck, dass die EZB-Hilfe nicht in der Wirtschaft ankomme, äußerst aber Sympathie dafür, angesichts von Entwicklungen wie der Digitalisierung die Transmission zu überdenken.Im zweiten Themenblock schließlich fordern viele Teilnehmer, die EZB müsse viel stärker als bislang neben ihrem vorrangigen Ziel der Preisstabilität auch ihre sekundären Ziele wie die Beschäftigung in den Fokus nehmen. Die Debatte dreht sich dabei vor allem um die Rolle der EZB im Kampf gegen den Klimawandel. Greenpeace-Experte Adam Pawloff und andere sehen die EZB gefordert. Sie stellen sich damit auch hinter Lagarde, die für eine stärkere Rolle der EZB in diesem Kampf wirbt, im EZB-Rat aber durchaus auch auf Skepsis stößt. Bei der Veranstaltung sagt sie, es sei “die Pflicht” der EZB, dieses Thema in ihre Überlegungen einzubeziehen.Lagarde selbst rüttelt dabei auch am Prinzip der Marktneutralität bei den EZB-Anleihekäufen und liebäugelt mit einer Bevorzugung grüner Anleihen. Auch Chefvolkswirt Lane stellte dieses Prinzip gestern in Frage. Businesseurope-Vertreter Beyrer aber warnte vor einem solchen Schritt.Daneben geht es aber um Forderungen, die kaum noch etwas mit Geldpolitik zu tun zu haben scheinen – ob mehr Investitionen für bezahlbares Wohnen, den Erhalt der kulturellen Diversität oder mehr soziale Gerechtigkeit. Nicht zuletzt deshalb gibt es auch in der EZB und den Euro-Notenbanken selbst durchaus einige, die sich sorgen, dass der ganze Prozess der Strategieüberprüfung durch die “ECB listens”-Events überfrachtet werden könnte und überzogene Erwartungen geweckt werden könnten. Die EZB wird spätestens 2021 entscheiden müssen, was sie aus den Diskussionsrunden macht. Komplett ignorieren kann sie das Gehörte dann sicher nicht mehr.——Erstmals in ihrer Geschichte sucht die EZB in Sachen Geldpolitik und Strategie den Dialog mit der breiten Öffentlichkeit. Was daraus folgt, bleibt offen. ——