Die irische Grenze darf keine Grenze sein

Bislang keine Alternativen zu Grenzkontrollen, aber Boris Johnson will nicht auf Freihandel verzichten

Die irische Grenze darf keine Grenze sein

Von Benjamin Triebe, LondonDer britische Premierminister Boris Johnson unternimmt mit Besuchen in Deutschland und Frankreich einen vielleicht entscheidenden Versuch, ein Brexit-Zugeständnis von der EU zu erreichen. Es geht ihm um einen zentralen Konflikt des EU-Austritts, um die Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland. Genau wie der EU ist es Johnson ein Anliegen, Kontrollen an dieser fast 500 Kilometer langen Grenze nach dem Brexit zu verhindern – über den Weg dahin sind sich beide Seiten jedoch uneins. Streit um RegulierungenDie Volkswirtschaften auf der Insel sind eng verwoben. Nordirland verkaufte im vergangenen Jahr 36 % seiner Güterexporte nach Irland und bezog 28 % der Importe von dort. Das Gesamtvolumen belief sich auf 5,4 Mrd. Pfund (5,9 Mrd. Euro). Zölle und Grenzkontrollen würden diesen Handelsfluss potenziell schwer beeinträchtigen. Mehr Sorgen bereitet allerdings ein mögliches Aufflammen des Nordirland-Konflikts: Im Alltag existiert die Grenze bis heute nur auf der Landkarte. Jede Form der erkennbaren Trennung beider Gebiete durch Schranken und Posten gilt als Gefahr für den Frieden.Der Konflikt um die Vermeidung von Warenkontrollen ist im Kern ein Streit um Regulierungen. Johnson hat jüngst in einem Brief an EU-Rats-Präsident Donald Tusk betont, dass das Vereinigte Königreich nach dem EU-Austritt eigene Regeln für Warenstandards aufstellen wolle – eine Kernforderung der Brexit-Befürworter. Gegenwärtig ist das Vereinigte Königreich genau wie Irland Teil der EU-Zollunion und des Binnenmarktes. Das wird mit dem Brexit enden, doch im Fall unterschiedlicher Produktstandards setzt jedes künftige Handelsregime Kontrollen voraus – sei es ein Freihandelsabkommen oder selbst eine Zollunion. Auch eine Anlehnung an den Binnenmarkt ohne Mitgliedschaft in einer Zollunion hilft nicht weiter, weil dann aufgrund der unterschiedlichen Zollregime kontrolliert werden müsste.Aus diesem Grund gibt es den umstrittenen Backstop: Bei dieser Notlösung bleibt Nordirland Teil der EU-Zollunion und wird durch eine Angleichung der Regeln sehr eng an die Standards des Binnenmarkts herangeführt. Weil Johnsons Amtsvorgängerin Theresa May keine unterschiedlichen Zollregeln zwischen Nordirland und Großbritannien zulassen wollte, überredete sie die EU sogar, beim Backstop das ganze Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU zu halten.Das ist den Brexit-Hardlinern zuwider, weil sie eigene Handelsabkommen abschließen und dafür über Zölle und Regulierungen frei verfügen wollen – und zwar für das ganze Land. Auch eine Sonderlösung für Nordirland, ein räumlich begrenzter Backstop, scheidet damit für sie aus. Also sind Kontrollen nicht zu vermeiden; die Frage ist nur, wie und wo. Unter Backstop-Gegnern kam schon vor Monaten die Idee auf, technische Überwachungslösungen zu suchen, die bemannte Grenzposten unnötig machen würden.Ein britischer Untersuchungsausschuss befasste sich im Frühjahr mit den Elementen einer solchen Lösung. Dazu zählen Abkommen zum Datenaustausch und zur Akkreditierung von Händlern, Funkchips an Waren und Fahrzeugen, ein komplett digitales Deklarationssystem, Unmengen von Überwachungskameras an der Grenze zur automatischen Fahrzeugerkennung sowie mobile Inspektionsteams. Zudem wäre ein hohes Maß an Vertrauen in beiden Ländern nötig, bei Behörden, Unternehmen oder Fahrern. Es wäre ein weltweit einmaliges Grenzmodell, das vielleicht technisch möglich ist, aber eine lange Einführungszeit benötigt.Eine Analyse des Centre of European Reform betont, dass es weiter regelmäßige Überprüfungen von Waren geben müsste. Sie würden nur nicht mehr direkt an der Grenze, sondern an vorgelagerten Posten stattfinden. Die Frage sei dann, ab wann eine Kontrolle nicht mehr als Grenzkontrolle wahrgenommen werde. Außerdem müsste es weiter echte Stichproben in Grenznähe geben, um Schmuggler aufzuspüren.Dass die Kontrollen umso umfangreicher sein müssen, je mehr die Regulierungen der beiden Länder divergieren, scheint auch Johnson zu erkennen. In seinem Brief an Tusk rief Johnson zu “flexiblen” Lösungen auf. Wie “The Sun” erfahren haben will, möchte London, dass sich Irland nach dem Brexit von dem Regelbuch des EU-Binnenmarkts entfernt und sich an britische Regulierungen anpasst – so lange, bis die technischen Lösungen einsatzbereit sind. Dass Dublin darüber begeistert wäre, darf bezweifelt werden.