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Die Kritik an Boris Johnsons Pandemie-Guru wächst

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 1.4.2020 Was die britische Regierung zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie unternimmt, ist stark von den Modellrechnungen von Professor Neil Ferguson vom Imperial College in London beeinflusst worden. Er...

Die Kritik an Boris Johnsons Pandemie-Guru wächst

Von Andreas Hippin, LondonWas die britische Regierung zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie unternimmt, ist stark von den Modellrechnungen von Professor Neil Ferguson vom Imperial College in London beeinflusst worden. Er hatte in einem Papier vor dem Verlust von 510 000 Menschenleben gewarnt, sollten keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen werden. Für den Fall, dass die Regierung ihre zunächst noch sehr zurückhaltende Herangehensweise nicht verschärfen sollte, wurde eine Opferzahl von 250 000 aufgeführt. Auf dieser Grundlage soll sich Premierminister Boris Johnson für die nun geltenden Ausgangsbeschränkungen entschieden haben. Umstrittene ErgebnisseDabei sind Fergusons Forschungsergebnisse alles andere als unumstritten. Wissenschaftler sind sich nicht einig darüber, wie viele Menschen in Großbritannien sich bereits infiziert und dadurch Immunität erlangt haben. Ob es nun um Prognosen des Wirtschaftswachstums oder der Erderwärmung geht, für alle Computermodelle gilt die Grundregel: Garbage in, garbage out. Stimmen die Grundannahmen nicht oder verfügt man über keine verlässlichen Daten, sind die Ergebnisse wertlos. Doch Ferguson verfügt über erheblichen Einfluss. Er war 2008 an der Gründung des Medical Research Council (MRC) Centre for Global Infectious Disease Analysis beteiligt. Er berät die Weltgesundheitsorganisation WHO, die EU und die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten.Andere Wissenschaftler fragen sich, warum ihre Forschungsergebnisse nicht berücksichtigt werden. Sie überrasche die “unqualifizierte Akzeptanz” des Imperial-College-Modells, sagte etwa Sunetra Gupta, Professorin für theoretische Epidemiologie an der Universität Oxford. Ihre Forschergruppe (Evolutionary Ecology of Infectious Disease) geht davon aus, dass sich das Virus mehr als einen Monat lang unbemerkt im Vereinigten Königreich verbreiten konnte, bevor der erste Fall offiziell festgestellt wurde. Es mangelt an TestsMehr als die Hälfte der Bevölkerung könnte demnach bereits infiziert sein. Die große Mehrheit habe lediglich milde oder gar keine Symptome. Weniger als einer von 1 000 Infizierten werde so krank, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden müsste. Viele Menschen wären demnach bereits immun gegen das Virus. Überprüfen lassen sich solche Modelle nur durch das Testen möglichst vieler Menschen auf das Virus oder auf Antikörper dagegen. Bislang sind verlässliche Tests jedoch nicht in ausreichendem Maße erhältlich. Der Regierung bleibt in so einer Situation keine andere Wahl, als vom “Worst Case” auszugehen. Aufsehenerregende ZahlenUm aufsehenerregende Zahlen war Ferguson nie verlegen. Seine Forschungsergebnisse sorgten nach einem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche 2001 für die massenhafte Tötung von mehr als sechs Millionen Nutztieren. Michael Thrusfield, Professor für Veterinärepidemiologie an der Universität Edinburgh, verfasste gleich zwei Papiere zu den aus seiner Sicht problematischen Annahmen, die Fergusons Modellen zugrunde lagen. Er habe ein Gefühl von “Déjà-vu” gehabt, als er das Papier zum Coronavirus gesehen habe, wird Thrusfield vom “Telegraph” zitiert. Bei BSE erheblich verschätztAls in Großbritannien der Rinderwahnsinn (BSE) grassierte, schätzte Ferguson die Zahl der möglichen Opfer, sollte die Krankheit von Kühen und Schafen auf den Menschen überspringen, auf bis zu 150 000. Bislang starben weniger als 200 an der menschlichen Form von BSE. Mit Blick auf die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung sagte Ferguson zuletzt, man rechne nun mit 20 000 Toten durch das Coronavirus. Es könnten aber auch wesentlich weniger sein. Bis zu zwei Drittel derjenigen, die in diesem Jahr daran sterben, wären ohnehin an anderen Gebrechen verstorben. Schließlich handele es sich bei ihnen meist um alte und schwerkranke Patienten.