LEITARTIKEL

Die letzten Europäer

Traditionell sind die letzten Tage des Jahres die Zeit des Rückblicks, der Vorausschau und damit einhergehend der Bilanz. An einer Bestandsaufnahme haben die Berufseuropäer in der EU-Kommission und im EU-Parlament dieses Jahr allerdings wenig...

Die letzten Europäer

Traditionell sind die letzten Tage des Jahres die Zeit des Rückblicks, der Vorausschau und damit einhergehend der Bilanz. An einer Bestandsaufnahme haben die Berufseuropäer in der EU-Kommission und im EU-Parlament dieses Jahr allerdings wenig Freude. Denn die Europäische Union befindet sich in einem jämmerlichen Zustand, vielleicht gar in einem kritischen. Wohin man schaut, trifft man auf Probleme.Der Süden leidet nach wie vor unter den Folgen der Schuldenkrise. Griechen, Italiener und jüngst auch Portugiesen schimpfen über vermeintliche Spardiktate von Troika und Bundesregierung und dehnen eigene Zusagen im Rahmen von Stabilitätspakt und Hilfsprogrammen so weit wie irgend möglich. Im Norden festigen europakritische Rechtspopulisten wie die Basisfinnen oder die dänische Volkspartei mangels überzeugender europäischer Antworten auf die Flüchtlingskrise ihre Position – und nicht zuletzt die Einschränkungen im dänisch-schwedischen Grenzverkehr veranschaulichen, dass eigentlich selbstverständliche Prinzipien und Freiheiten bedroht sind. Im Osten rücken Regierungen wie in Ungarn oder Polen nicht nur vom Grundsatz der Solidarität ab, sondern insgesamt vom Wertekanon der EU. Handstreichartige Beschränkungen der Presse oder der Gerichte provozieren die Frage, ob eigentlich noch alle Mitglieder des Clubs gemeinsame Vorstellungen vom “European way of life” haben. Im Westen schließlich ist die Gefahr einer langsamen Erosion oder gar eines schnellen Zerfalls der EU akut. Schließlich könnten die Briten in wenigen Monaten Abschied nehmen – und damit den Staatenbund in eine existenzielle Krise schicken.Einzig Deutschland fällt bei der europäischen Rundschau nicht durch offensichtliche Absetzbewegungen auf. Zwar gibt es – na klar! – auch hierzulande bekennende EU-Gegner. Ihr Anteil liegt aber deutlich niedriger als in Frankreich, Österreich oder den Niederlanden. Und Kanzlerin Angela Merkel zählt zu den wenigen Regierungschefs, deren Position im eigenen Land gefestigt genug ist, um sich ein unbedingtes Bekenntnis zur EU erlauben zu können. Kein Zufall, dass es Merkel war, die klarer als jeder andere Premier den Wunsch an die Briten formulieren konnte, sich doch für einen Verbleib zu entscheiden.Heißt das, die Bundesbürger sind die letzten Europäer? Nein, schließlich stehen – aus sehr unterschiedlichen Motiven – nach wie vor auch die Menschen in Baltikum und Balkan und auch die Luxemburger der EU wohlwollend gegenüber. Allerdings können weder Lettland noch Bulgarien noch Luxemburg in der Union die politische Führung übernehmen. Da also Großbritannien und Frankreich genug damit zu tun haben werden, im Inneren für die EU zu kämpfen, Italien und Spanien krisengebeutelt als Integrationsmotor ausfallen und Polen und Ungarn sich für diese Rolle disqualifiziert haben, fällt es Deutschland zu, gemeinsam mit den EU-Institutionen den zentrifugalen Kräften entgegenzuwirken, die Europa gegenwärtig auseinandertreiben.Besorgniserregend an der Abkehr von der EU ist, dass es längst nicht mehr nur gesellschaftliche Verlierer oder verhärmte Protestwähler sind, die für die Renationalisierung politischer Entscheidungen und die Abgrenzung gegenüber dem EU-Nachbarn votieren – und damit auch für eine wirtschaftliche Entkoppelung vom Binnenmarkt oder gar für den Abschied von der internationalen Arbeitsteilung. Allem Anschein nach genießt der bewährte europäische Grundsatz, sich um des gemeinsamen Ganzen willen auf den Hauptnenner zu verständigen, keine breite Akzeptanz mehr. Denn der (Mehr-)Wert des gemeinsamen Ganzen an sich ist nicht mehr offensichtlich.Die Aussichten, dass es der EU gelingt, die Bürger Europas wieder vom Mehrwert zu überzeugen, stehen leider nicht sehr gut. Frustrierenderweise haben sich Menschen aus Staaten, die in der Krise von der Solidarität der EU-Partner profitierten, nicht wieder Europa zugewandt: In Griechenland und Zypern ist der Anteil derer, die mit EU vor allem Negatives verbinden, so hoch wie nirgendwo. Ebenfalls enttäuschend ist, dass auch Bürger aus Nettonehmerstaaten wie Tschechien oder der Slowakei nicht zu den großen EU-Fans zählen. Am ernüchterndsten aber dürfte die Tatsache sein, dass selbst Menschen in Ländern wie Polen, in denen die Wirtschaft zuletzt florierte, EU-kritische Parteien wählen. Deshalb bleibt für das abgelaufene Jahr in der Europäischen Union nur das Fazit: 2015 war vielleicht gar nicht so schlecht, zumindest verglichen mit dem folgenden Jahr.——–Von Detlef FechtnerBesorgniserregend ist, dass nicht mehr nur gesellschaftliche Verlierer oder verhärmte Protestwähler für eine Renationalisierung politischer Entscheidungen votieren.——-