Guntram Wolff

„Die Merkel-Kanzlerschaft war eine reaktive Periode in der Europapolitik“

Der Ökonom Guntram Wolff steht an der Spitze der renommierten Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Der Bundestagswahl misst er deutlich größere europapolitische Bedeutung zu, als dem Thema Europa bisher im Bundestagswahlkampf zukommt.

„Die Merkel-Kanzlerschaft war eine reaktive Periode in der Europapolitik“

Andreas Heitker und Stefan Paravicini.

Herr Wolff, die Bundestagswahl wird auch in Brüssel und in allen anderen europäischen Hauptstädten mit Spannung verfolgt. Welche Bedeutung hat die Wahl für die nähere Zukunft der Europäischen Union?

Die strategischen und politischen Entscheidungen, die die neue Regierung in Berlin fällen wird, sind von besonderer Bedeutung für die EU. Deutschland hat als größtes Mitgliedsland ein sehr großes Gewicht in allen Entscheidungen der EU. Das gilt sowohl europapolitisch als auch aus einer globalen Perspektive. Wie sich Deutschland bei den wichtigen außen- und wirtschaftspolitischen Themen positioniert, hat enormen Einfluss auf die europäische Position. Viele der deutschen Positionen gegenüber dem Rest der Welt sind letztlich europäische Politik und nicht rein deutsche Politik. Insofern ist die anstehende Bundestagswahl für die gesamte EU extrem wichtig.

Warum bleiben die Parteien dennoch auf Abstand zu europapolitischen Themen? Im bisherigen Wahlkampf hat Europa doch kaum eine Rolle gespielt.

Ich glaube, dass man sich in Deutschland scheut, diese heißen Eisen anzupacken. Es geht ja um schwierige und auch sehr kontroverse Themen – sei es die Zukunft der Eurozone, sei es die künftige europäische Gesundheits- oder auch Handelspolitik. Mein Eindruck ist, dass die deutsche Politik sich scheut, diese in den Wahlkampf einzubringen, weil man nicht so genau weiß, wie das Publikum darauf reagiert.

Die drei Kandidaten, die sich um die Nachfolge von Angela Merkel bewerben, verfolgen alle eine proeuropäische Politik. Macht es für die EU trotzdem einen Unterschied, wer am Ende ins Kanzleramt einzieht?

Es gibt trotz der proeuropäischen Prägung der drei Kandidaten und ihrer Parteien wichtige Unterschiede, wenn es darum geht, was für ein Europa sie genau haben wollen. Die Kanzlerkandidatin der Grünen hat etwa Vorstellungen, die näher an Frankreich sind als die des Unions-Kandidaten. Und die Ausrichtung in der Europapolitik hängt am Ende natürlich auch von der Regierungsmannschaft ab. Ein Bundesfinanzminister Friedrich Merz wäre für den Rest Europas zum Beispiel schwieriger als der derzeitige Finanzminister. Wenn es hart auf hart kommt, stehen alle drei Spitzenkandidaten in der bundesrepublikanischen Tradition, Europa zusammenzuhalten. Bei dieser Wahl geht es aber auch darum, wie aktiv man die schwierigen europäischen Themen anpacken möchte.

Wie aktiv hat das die Bundesregierung denn in den vergangenen Jahren gemacht?

Die Merkel-Kanzlerschaft war insgesamt eher eine reaktive Periode in der Europapolitik. Das heißt nicht, dass sie nicht wichtige und sehr positive Entscheidungen gebracht hat. Aber sie hat sie doch oft eher spät und unter Druck gefällt. Und das hat die deutsche Position in Europa nicht unbedingt vorangebracht. Da hätte die Bundesregierung proaktiver und früher handeln können, vor allem während der globalen Finanzkrise und in der Eurozonenkrise. Das hat Deutschland enorm viel Glaubwürdigkeit im Rest von Europa gekostet. Und das haben die anderen Mitgliedsländer der EU auch noch nicht vergessen.

Sie sprechen von den Rettungsprogrammen in der Staatsschuldenkrise?

Ja. Die sehr schwierige Periode der Programme und der Austerität, die Double Dip Recession in den Jahren 2012 und 2013 – das alles hat sehr viel Leid in Südeuropa verursacht und auch dem Ansehen Deutschlands geschadet. Der europäische Wiederaufbaufonds nach der Pandemie ist dagegen eine Antwort, mit der auch Angela Merkel wieder viele Pluspunkte gemacht hat, und die sich letztendlich nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich für Deutschland auszahlen wird. Das Programm hilft der europäischen Wirtschaft als Ganzes und damit auch Deutschland, das ja besonders abhängig ist von der Verflechtung mit Europa und der Welt.

Wird der Schwung des Wiederaufbauprogramms reichen, um in den nächsten Jahren weitere Integrationsschritte in Europa zu machen?

Ich glaube schon, dass weitere Integrationsschritte kommen können. Eine ganz konkrete Diskussion wird sich darum drehen, wie man in der gemeinsamen Gesundheitspolitik weitermacht. Wir haben zu Beginn der Pandemie gesehen, dass es sogar zu Protektionismus innerhalb der EU kam. Diese erheblichen Friktionen waren auch gefährlich für die Gesundheit, wenn zum Beispiel die Ventilatorenproduktion unterbrochen war wegen Lieferproblemen. Inzwischen hat die EU aber doch gezeigt, dass sie liefern kann. Heute sind 70% der erwachsenen Bevölkerung in der EU vollständig geimpft. Das ist ein Erfolg, die EU liegt damit vor den USA und Großbritannien. Anfänglich lief die Impfung schleppend an, aber die EU hat inzwischen mehr geimpft und mehr exportiert als die Angelsachsen. Die europäische Gesundheitspolitik ist ein ganz konkreter Bereich, in dem in den nächsten Jahren noch mehr gemacht werden wird. Da gibt es gerade für Deutschland auch großes wirtschaftliches Potenzial.

Was werden denn sonst noch die großen europapolitischen Themen sein, denen sich die neue Bundesregierung stellen muss? Für die deutsche Wirtschaft dürfte unter anderem die Ausgestaltung des Green Deal von Bedeutung sein, oder?

Das Thema Klimaschutz ist zentral und wird in den nächsten Jahren das beherrschende Thema bleiben. Das wird die Gesellschaft und die Wirtschaft in vielen Dimensionen prägen. Die Ziele des Green New Deal sind richtig. Wir müssen unsere Ökonomien so schnell wie möglich dekarbonisieren und in die Anpassung an den Klimawandel investieren. Die Flut in Deutschland oder die Brände in Griechenland haben gerade wieder gezeigt, dass da bisher viel zu wenig gemacht wurde. Was im Rahmen der Klimapolitik absolut zentral sein wird, ist die Besteuerung von Emissionen. Daran führt kein Weg vorbei. Das müssen wir machen.

Im Bundestagswahlkampf sprechen die Parteien lieber über Subventionen als über einen Preis für CO2-Emissionen. Wie sieht das im Rest der EU aus?

Es gibt viele Länder in Europa, die die Besteuerung von Emissionen vermeiden wollen, weil die Bürger das nicht mögen, und die stattdessen auf Subventionen setzen. Das wird aber nicht funktionieren. Wir können nicht alles über Subventionen hinbekommen. Wir müssen Emissionen teurer machen, sonst wird die Transformation zur Klimaneutralität für den öffentlichen Sektor unbezahlbar. Das wird einer der zentralen Konfliktpunkte in den nächsten Jahren. Wie stark kann man die Dekarbonisierung über steuerliche Anreize erreichen, und wie weit muss man sie mit Subventionen fördern? Die Hauptrolle muss dabei das Preissignal spielen.

Welche Rolle spielt der Finanzsektor in der künftigen deutschen Europapolitik?

Wir müssen vor allem bei der Banken- und der Kapitalmarktunion Fortschritte machen – allein schon deshalb, weil wir die Kapitalmärkte brauchen, um die ökologische Transformation finanzieren zu können. Unsere Kapitalmärkte in Europa sind weiterhin klein und fragmentiert. Das bedeutet zusätzliche Kosten für die Wirtschaft. Um etwas dagegen zu tun, wird auch die deutsche Position sehr wichtig sein.

Und wie geht es in der Debatte um die europäischen Haushaltsregeln weiter?

Die entscheidende Frage wird sein, wie wir die grünen Investitionen des öffentlichen Sektors finanzieren können. Denn die wird es geben müssen, selbst wenn wir sehr viel auf die Privatwirtschaft schieben. Das sind massive Kapitalinvestitionen, die man nicht aus der laufenden Kasse finanzieren kann. Investitionen in grüne Infrastruktur lassen sich nicht durch einen Verzicht auf eine Rentenerhöhung bewältigen. Da würden massive Zielkonflikte entstehen. Da das aber Kapital ist, das über Jahrzehnte genutzt wird, ist die Finanzierung über Defizite sinnvoll. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiges Argument: Kapital, das über Jahrzehnte abgeschrieben wird, kann man nicht am Beginn einer Periode „upfront“ bezahlen. Diese Investitionen müssen über Defizite gestreckt werden. Das erfordert einen gewissen Anpassungsbedarf sowohl bei den deutschen als auch bei den europäischen Haushaltsregeln.

Anpassungen gelingen in Europa nur, wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind. Droht der deutsch-französische Motor angesichts der Wahlentscheidungen in beiden Ländern ins Stottern zu geraten?

Das hängt stärker von der französischen Wahl im nächsten Frühjahr ab als von der Bundestagswahl. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass der deutsch-französische Motor weiterhin notwendig ist, um in Europa Fortschritte zu machen. Er ist zwar nicht mehr hinreichend, und man muss auch ein paar andere Länder überzeugen. Aber wenn Deutschland und Frankreich sich nicht einig sind, läuft in Europa gar nichts.

Was würde ein Sieg von Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2022 bedeuten?

Das wäre ein Schock für die Europapolitik. In Frankreich steht insofern mehr auf dem Spiel. Wenn Marine Le Pen an die Macht käme, würde es auch aus deutscher Perspektive schwierig werden. Eine der großen strategischen Fragen für Deutschland ist ja, wie man sich als frankreichfreundliches Land positioniert. Das wird schwer, wenn Marine Le Pen an der Macht ist.

Das Interview führten

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