"Die Notenbank muss sofort reagieren"
– Herr Gitzel, die Türkei galt über viele Jahre als Blaupause für aufstrebende Märkte, beeindruckte durch ihr Wachstum. Was ist schiefgegangen? Die Türkei war noch vor einigen Jahren die große Hoffnung unter den großen Schwellenländern. Der Erfolg war maßgeblich auf den damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zurückzuführen. Während seiner Amtszeit begannen die EU und die Türkei mit Beitrittsverhandlungen. Gleichzeitig trieb er die Liberalisierung der Wirtschaft weiter voran und verschrieb sich einer strengen Haushaltsdisziplin. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass Erdogan zeitweise einer Lösung des Konflikts mit der kurdischen Bevölkerung sehr nahe kam. Die Türkei lag gerade wegen der Politik Erdogans in der Gunst internationaler Unternehmen ganz weit vorne. Mittlerweile hat sich die Situation in das Gegenteil verkehrt. Der zunehmende autokratische Führungsstil Erdogans stieß nicht nur die EU, sondern auch die Finanzmärkte vor den Kopf – zumal er die Unabhängigkeit der Notenbank in Frage gestellt hat. – Hat der türkische Präsident noch einen Rest von Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten?Es sieht derzeit nicht danach aus. Ein Blick auf den Kursverlauf der türkischen Lira reicht, um dies zu unterstreichen. – Der türkische Finanzminister Berat Albayrak, der Schwiegersohn von Erdogan, hat der türkischen Notenbank volle Unabhängigkeit zugesichert. Für wie glaubwürdig halten Sie diese Ankündigung?Ich würde gerne glauben, dass sich die türkische Administration eines Besseren hat belehren lassen und nun einlenkt. Die Glaubwürdigkeit kann aber nur durch Taten der Notenbank zurückgewonnen werden.- Wie hoch erachten Sie die Wahrscheinlichkeit, dass die türkische Notenbank auf ihrer nächsten Sitzung am 13. September tatsächlich den Schlüsselsatz anhebt?Eine Zinserhöhung am 13. September käme zu spät. Die Notenbank muss sofort reagieren, um weiteren Schaden von der Türkei abzuwenden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Abwertung der Lira weitergeht. Die Reden von Erdogan und Albayrak am Freitag haben jedenfalls nicht gerade zur Beruhigung beigetragen. Im Gegenteil, Erdogan plädierte an den Nationalstolz der Türken. All diejenigen, die Fremdwährungen unter dem Kopfkissen gebunkert hätten, sollten diese in Lira tauschen. Das klingt fast schon nach Verzweiflung und nicht nach einem ausgetüftelten Plan.- Was sind für Sie die positiven Schlüsselbotschaften aus der Rede von Albayrak?Positiv zu werten ist, dass die Unabhängigkeit der Notenbank hervorgehoben wurde. Hier müssen nun aber Taten in Form von deutlichen Zinserhöhungen folgen. Auch der Wille, das hohe Leistungsbilanzdefizit einzudämmen, ist positiv zu bewerten. Dazu soll vor allem ein Sparprogramm des türkischen Staates beitragen. Ich gehe davon aus, das dies auch umgesetzt wird. Die Haushaltsdisziplin war in den vergangenen Jahren bereits hoch. – Und was ist Ihnen besonders negativ aufgefallen? Negativ fielen die Dinge auf, die nicht genannt wurden. Dazu gehört die Problematik der hohen Fremdwährungsverbindlichkeiten im privaten Sektor. Das betrifft zwar primär den Zuständigkeitsbereich der türkischen Notenbank, doch ein paar Worte dazu hätten gezeigt, dass das Problem erkannt ist.- Zeitgleich zur Rede von Albayrak hat US-Präsident Donald Trump angekündigt, dass die Zollsätze auf türkische Stahl- und Aluminiumprodukte verdoppelt werden. Wie schädlich ist das für die ohnehin schon angeschlagene Türkei? Sehr schädlich. Allerdings muss man hierbei etwas tiefer gehen. Es zählt weniger die reine Zollmaßnahme als vielmehr die dahinterstehende Symbolik. Donald Trump senkt in Anbetracht der sehr angespannten Situation in der Türkei nicht den Gewehrlauf, sondern schickt sogar noch weitere Salven in Richtung Bosporus. – Deutschland und die Türkei sind eng verflochten. Wird Deutschland unter einem Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft besonders leiden, oder sehen Sie andere europäische Staaten stärker betroffen?Grundsätzlich gilt, die globale Wirtschaft sitzt in einem Boot. Der europäische Finanzsektor hat ausstehende Forderungen gegenüber dem türkischen Bankensektor. Wer nun die höchsten direkten Forderungen hat, spielt am Ende des Tages keine Rolle. Der europäische Finanzsektor ist vernetzt. Selbst der US-amerikanische und der asiatische Bankensektor wären zumindest in begrenztem Umfang von heftigeren Turbulenzen in der Türkei betroffen. Allerdings gilt auch: Die Türkei ist nicht Italien. Selbst wenn einzelne Kredite nicht mehr zurückbezahlt würden, wäre dies nicht bedrohlich für das Gesamtsystem. Realwirtschaftlich könnte die Türkei gewisse Bremsspuren in Deutschland hinterlassen. Die Türkei rangiert auf Platz 16 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands. Immerhin verließen Deutschland im Jahr 2017 Waren im Gegenwert von 21 Mrd. Euro in Richtung Bosporus – mehr als nach Japan. —-Die Fragen stellte Archibald Preuschat.