"Die Notenbanken dürfen nicht überreagieren"
Herr Professor Wieland, die US-Notenbank Fed hat erstmals seit der Weltfinanzkrise 2008 ihren Leitzins gesenkt, die Europäische Zentralbank (EZB) bereitet für September ein umfassendes Lockerungspaket vor und auch weltweit steuern die Zentralbanken wieder in Richtung expansiverer Geldpolitik. Ist das wegen der globalen Wachstumsabschwächung angemessen oder überziehen die Zentralbanken?Grundsätzlich ist es sinnvoll, wenn Notenbanken auf das Wirtschaftswachstum reagieren. Die wirtschaftliche Entwicklung ist auch wesentlich für die Inflation. Die Notenbanken dürfen aber auch nicht überreagieren. Nehmen Sie die Fed: Die Lage am US-Arbeitsmarkt ist hervorragend und das Wirtschaftswachstum geht zwar etwas zurück, das aber ausgehend von einem hohen Niveau. Fed-Chef Jerome Powell versucht zu Recht, dem Eindruck einer Trendwende hin zu einer längeren Runde von mehreren Zinssenkungen entgegenzutreten. Das wäre angesichts der guten Konjunktur und der moderaten Inflation nicht angebracht. Und die Fed sollte auch nicht als williger Vollzieher Trump’scher Zinssenkungstweets erscheinen. Und was ist mit der EZB? Sie erwägt sogar neue Wertpapierkäufe (Quantitative Easing, QE).Insbesondere die deutsche Industrie ist von der Unsicherheit und Investitionszurückhaltung, die die globalen Handelsstreitigkeiten ausgelöst haben, stark betroffen. Insgesamt ist die Auslastung der deutschen und europäischen Wirtschaft jedoch weiter hoch und die Situation am Arbeitsmarkt ist sehr gut. Die Inflation liegt zwar etwas unterhalb des Ziels, aber die Geldpolitik ist auch noch sehr locker. Es besteht keinerlei Anlass für Krisenmaßnahmen, die erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen. Was können die Zentralbanken nach mehr als einem Jahrzehnt ultralockerer Geldpolitik überhaupt noch bewirken? Haben sie nicht längst ihre Grenzen erreicht?Die Fed hat die gute Entwicklung in den vergangenen drei Jahren für Zinserhöhungen und eine Reduzierung der Notenbankbilanz genutzt. Im unwahrscheinlichen Fall einer schweren Rezession könnte sie den Leitzins jetzt von derzeit 2,0 % bis 2,25 % nicht nur auf 0 %, sondern in den negativen Bereich senken. Ein Zins von -1 % dürfte möglich sein, ohne Anleger massiv in die Bargeldhaltung zu drängen. Sollte das nicht reichen, könnte sie ihre Notenbankbilanz wieder ausweiten. Bei der EZB sieht das anders aus. Sie hat die gute wirtschaftliche Entwicklung leider nicht für eine moderate Anpassung der Geldpolitik genutzt. Das hätte den Aufschwung wie in den USA nicht gefährdet. Stattdessen prüft die EZB nun, wie sie die Zinsen weiter in den negativen Bereich senken oder selbstgesetzte Grenzen bei den Anleihekäufen aufweichen kann. Das ist beides möglich, bringt aber negative Nebenwirkungen mit sich. Was meinen Sie konkret?Wenn die EZB beispielsweise verstärkt die Anleihen hoch verschuldeter Staaten wie Italien anstelle der negativ verzinsten Bundesanleihen kaufen würde, würde sie Italiens Regierung geradezu ermutigen, ihre Schulden außer Kontrolle wachsen zu lassen. Wenn sie die 33-Prozent-Obergrenze beim Anteil pro Anleiheemission durchbricht, kann und muss sie einen Schuldenschnitt blockieren, falls er bei einer Staatsschuldenkrise erforderlich würde. Solch eine Position sollte sie vermeiden. Der frühere Schweizer Notenbankchef Philipp Hildebrand erwartet jetzt sogar den Einsatz von “Helikoptergeld” im Euroraum, also von Geldgeschenken an Privathaushalte und Unternehmen. Was halten Sie davon?Nichts! Die Notenbanken haben andere Instrumente. Bei einer Rezession oder Deflation – und wohlgemerkt: Beides haben wir derzeit nicht – könnten sie den Geldmarktzins weiter in den negativen Bereich senken. Ebenso könnten sie verstärkt öffentliche Anleihen, Unternehmensanleihen oder Aktien kaufen. Bei Aktien dann am besten ein Portfolio, das einen breiten Index repliziert. Im Fall einer echten Krise kann das durchaus gerechtfertigt sein. Helikoptergeld dagegen bedeutet monetär finanzierte Transfers. Das ist Fiskalpolitik. Im Euroraum würde damit das Verbot der monetären Finanzierung gebrochen. Ist mit dem jüngsten Kursschwenk von Fed, EZB & Co. eine Rückkehr zur alten Normalität der Geldpolitik mit höheren Zinsen und ohne Wertpapierkäufe endgültig ad acta gelegt?Nein, das wird sich wieder ändern. Zwar wird diese Phase niedriger Zinsen nach den gegenwärtig möglichen Prognosen noch eine längere Zeit anhalten. Aber genauso wenig wie wir 2009 vorhersagen konnten, dass der Geldmarktzins 2019 immer noch nahe und sogar etwas unter 0 % liegen würde, können wir heute sicher sein, dass er bis 2029 nicht wieder auf 4 % steigt. Wie groß schätzen Sie im aktuellen Umfeld das Risiko eines globalen Abwertungswettlaufs oder gar eines Währungskriegs ein?Ich halte das Risiko eines Währungskriegs für gering. Die Fed, die EZB und die Bank von Japan sind unabhängig und ihre Politik ist auf ein nationales Inflationsziel ausgerichtet. Die Inflationsraten liegen in der Nähe dieses Ziels. Zudem ist der Wechselkurs flexibel. Bei einer klassischen Abwertungspolitik kontrolliert die Notenbank den Wechselkurs direkt. Das passiert derzeit nicht. Die Anleihekäufe der großen Notenbanken haben zwar gewisse Ab- und Aufwertungseffekte ausgelöst, aber nicht eine anhaltende Inflationierung der jeweiligen Währung, die über ihr Ziel deutlich hinausgehen würde. Zuletzt haben vor allem die USA und China Sorgen vor einem Währungskrieg geschürt.Trump versucht, massiven Druck auf die Fed auszuüben. Aber solange der US-Kongress nicht den Federal Reserve Act dergestalt ändert, dass die Fed dem Präsidenten unterstellt wird, sind seine Möglichkeiten der Einflussnahme recht begrenzt. In China dagegen ist die Notenbank der Regierung unterstellt. Aber wenn China sich auf eine gezielte und anhaltende Abwertungspolitik einlassen würde, dürfte das die Chancen zerstören, den Renminbi als eine führende Währung zu etablieren. Die Fed stellt ihr Rahmenwerk auf den Prüfstand und steuert auf ein durchschnittliches Inflationsziel über einen gewissen Zeitraum zu – ein “Average Inflation Targeting”. Wie beurteilen Sie das?Ich würde mir davon nicht so viel versprechen. Schon jetzt kann die Fed die Inflationsrate für einige Zeit unter- oder überschießen lassen. Es wäre eine moderate, aber vermutlich eher verwirrende Änderung der Strategie. Eine Erhöhung des Inflationsziels auf 3 % oder 4 % wäre einfacher zu kommunizieren und das würde den Abstand zu Null- und Negativzinsen offensichtlich erhöhen. Damit wäre also zwar Spielraum gewonnen, aber Preisstabilität verloren – und Glaubwürdigkeit auch. Zumindest ist es vermutlich umso schwieriger, die Inflation in Schach zu halten, je höher das Ziel ist. Ich denke nicht, dass solch eine Änderung notwendig ist. Die Fed hat genügend Handlungsspielraum. Und wenn die Inflationsrate einmal länger bei 1,5 % statt 2 % verharrt, ist das gerade bei anhaltendem Wachstum kein Problem. Die EZB hat zuletzt stärker die Symmetrie ihres Inflationsziels von unter, aber nahe 2 % betont. Wie schätzen Sie das ein?Ich halte das für verwirrend. Hat die EZB in der Vergangenheit etwa nicht symmetrisch auf Abweichungen der Inflationsrate vom Ziel reagiert? Sie hat meines Wissens nie beschlossen asymmetrisch zu agieren. Die empirische Evidenz, zum Beispiel von Zinsreaktionsfunktionen, spricht nicht gegen ein symmetrisches Verhalten. Bahnt sich da also jetzt ein Strategiewechsel an?Vermutlich will die EZB klarmachen, dass sie alles tun wird, um die Inflation, insbesondere die Kerninflation, zu erhöhen. Aber da drängt sich der Eindruck auf, dass sie mehr tut, um eine Abweichung um einen Prozentpunkt nach unten zu bekämpfen, als eine Abweichung um einen Prozentpunkt nach oben. Und genau das wäre asymmetrisch. Es gäbe sogar gute Argumente dafür, etwa um eine echte Deflationsgefahr zu bekämpfen. Aber das ist im Moment nicht naheliegend. Als Vergleichsgröße wären symmetrische Zinsregeln geeignet. Die Fed publiziert solche Regeln in ihrem geldpolitischen Bericht. Im Zuge einer Überarbeitung der Strategie sollte die EZB genau solche Regeln auf die Währungsunion anwenden und publizieren. Daran könnte sie die Symmetrie ihrer Politik festmachen. Weltweit stehen die Zentralbanken stark in der Kritik und es gibt immer mehr Stimmen, die eine engere Zusammenarbeit von Geld- und Fiskalpolitik fordern. Geht die Ära unabhängiger Zentralbanken zu Ende?Die quantitative Lockerung hat fiskalische Nebenwirkungen. Das ruft die Politik auf den Plan. Die hohe Notenbankbilanz weckt den Wunsch nach monetärer Finanzierung anderer Politikziele. Die Notenbanken sollten mit klaren Exit-Strategien dagegenhalten und festlegen, dass sie bei entsprechender Normalisierung der Inflation und der wirtschaftlichen Entwicklung die Anleihebestände wieder zurückführen. Gleichzeitig gilt es immer wieder klarzumachen, dass das Ziel der Preisstabilität, und das muss dann eng verstanden werden, am besten bei einer unabhängigen Notenbank aufgehoben ist. Die Fragen stellte Mark Schrörs.