Die ökonomische Vermessung der Welt
Von Stephan Lorz, FrankfurtDas Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Wohlstandsindikator wird von immer mehr Menschen mit Skepsis betrachtet. Zum einen, weil nur messbare Größen und nur über den Markt gehandelte Transaktionen in das Aggregat einfließen, während ehrenamtliche oder kostenlos angebotene Tätigkeiten und auch die diversen unentgeltlichen digitalen Angebote hierin kaum Niederschlag finden. Zum anderen, weil die Messgröße nicht unterscheidet zwischen mehr oder weniger erstrebenswerten Waren oder Dienstleistungen. Verkehrsunfälle und Katastrophen steigern das BIP, gleichzeitig sind die Menschen in vielen reichen Ländern oftmals unglücklicher als jene in armen Staaten.Deshalb suchen weltweit mehrere Arbeitsgruppen nach Alternativen zum BIP. Im Deutschen Bundestag hatte erst jüngst die Enquetekommission “Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität” vorgeschlagen, Lebensqualität nicht nur über die Stromgrößen des BIP zu messen, sondern auch anhand der Kriterien “Ökologie”, “Soziales und Teilhabe”.In Ländern wie Buthan gibt es das “Bruttonationalglück”, das amerikanische Gallup-Institut hat einen “Well-Being-Index” entwickelt, die Vereinten Nationen bieten einen “Human Development Index” an, der Think-Tank “New Economics Foundation” den “Happy Planet Index”, und die deutschen Ökonomen Ulrich van Suntum und Meinhard Miegel haben ein “Glücks-BIP” bzw. ein “Wohlstandsquintett” entwickelt. Letzteres beinhaltet das Pro-Kopf-BIP, die Einkommensverteilung, die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote, den ökologischen Fußabdruck und die Staatsverschuldung. Diktierte Wertvorstellungen?Das Problem: In diese Messgrößen gehen nicht nur absolute Faktoren ein, sondern auch Umfragedaten, qualitative und relative Sachverhalte, sie sind allesamt also durchaus politisch akzentuiert, weshalb manchen Vertretern der Glückforschung auch vorgeworfen wird, sie diktierten Wertvorstellungen.Zum heutigen “Internationalen Tag des Glücks” hat nun Eurostat eine neue Online-Veröffentlichung angekündigt zur Messung der Lebensqualität in Europa. Die Statistiker in Luxemburg gehen davon aus, dass die Lebenserwartung und die Pro-Kopf-Wertschöpfung durchaus Aussagen zulassen über die Lebensqualität. Dabei kristallisieren sich drei Ländergruppen in Europa heraus (siehe Grafik) um Bulgarien und Ungarn im einen, Ungarn und Portugal im anderen und Deutschland sowie Irland im dritten Topf, was zeigt: Der allgemeine Gesundheitszustand einer Gesellschaft steht im Zusammenhang mit der Höhe des BIP, jedoch werde dieser Zusammenhang schwächer, wenn ein gewisses Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht sei, schreiben sie. Auch die Länge der Schulzeit gibt nach ihren Worten einen Aufschluss über die Lebensqualität, weil höhere Bildung in der Regel auch mit besserem Einkommen und einer geringeren Ungleichheit einhergeht.Darum haben die Statistiker nun ein Zahlenset herausgebracht, das sie “8 + 1 Dimensionen für Lebensqualität” nennen: materielle Lebensbedingungen, produktive Arbeiten sowie Haupttätigkeit, Gesundheit, Bildung, Freizeit und soziale Interaktion, wirtschaftliche und physische Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sowie natürliche Umgebung und Wohnumfeld. Diese werden dann von einer weiteren Dimension (+ 1) ergänzt: dem BIP pro Kopf.Ein Nachteil all dieser Glücks-BIP-Konzepte: Sie sind komplex und nicht auf eine einzige Messzahl zu reduzieren, was sie weniger massentauglich macht. Außerdem kommen die herkömmlichen makroökonomischen Daten, an denen man ja auch – wie im Fall der Arbeitslosigkeit – die Lebensqualität ableiten kann, viel schneller daher und sind daher für die Kontrolle der politischen Steuerung schlicht praktikabler.