Die Rache der Eiskönigin
Von Andreas Hippin, LondonDer britische Premierminister Boris Johnson hatte den Raum verlassen, als sich seine Vorgängerin Theresa May (64) erhob, um sein Vorgehen im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie zu kritisieren. Während manche Abgeordnete mit Stirnrunzeln auf diesen Affront reagierten, begnügte sich die Tochter eines anglikanischen Vikars aus Eastbourne mit einem Schulterzucken. Die “Eiskönigin”, wie sie der Facebook-Pressesprecher Nick Clegg einst nannte, war die prominenteste Gegnerin Johnsons, die vor der Abstimmung über den erneuten Lockdown das Wort ergriff. Es sehe so aus, als würde sich die Regierung Statistiken aussuchen, die ihre Covid-19-Maßnahmen rechtfertigen, statt über ihre Maßnahmen auf Grundlage von Daten zu entscheiden, sezierte sie die vorangegangenen Einlassungen ihres Nachfolgers mit Gusto. Die Entscheidung für landesweite Ausgangsbeschränkungen basiere zu einem gewissen Grad auf der Annahme, dass 4 000 Menschen pro Tag an Covid-19 sterben könnten – eine Annahme, die sich bereits als “falsch” erwiesen habe, sagte May. “Wir brauchen ordentliche Analysen”, forderte sie. “Wir müssen die Einzelheiten hinter diesen Rechenmodellen kennen.”Am Ende stimmten 34 Tories gegen den Lockdown, darunter prominente Konservative wie Iain Duncan Smith oder Graham Brady, der Vorsitzende des 1922 Committee, das für die Organisation der Wahl des Parteichefs zuständig ist. May votierte zwar nicht gegen die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen, doch sie enthielt sich – wie 18 weitere Abgeordnete der Regierungspartei. Damit waren es schon 52, die nicht mitziehen wollten. Auch vier nordirische Unionisten stimmten gegen die Regierung.Für Johnson ist das ein Schuss vor den Bug. Auch eine Mehrheit von 80 Sitzen kann verpuffen, wenn die eigenen Parteifreunde abspringen. May hat mit dem ehemaligen Londoner Bürgermeister noch eine Rechnung offen. “Bojo” wird sich in den kommenden Wochen warm anziehen müssen, denn offenbar vermittelt das Washington Speakers Bureau May nicht genug Auftritte als Gastrednerin, um sie von solchen Attacken abzuhalten. Johnson kann nur hoffen, dass sie nicht zur Galionsfigur der Lockdown-Gegner wird.May arbeitete vor ihrem Einstieg in die Politik für die Bank of England und die Association for Payment Clearing Services, einen Verband von Zahlungsabwicklern. In den Jahren von 1999 bis 2010 hatte sie eine Reihe von Posten in den “Schattenkabinetten” der damals oppositionellen Konservativen inne. Sie war die erste Frau an der Spitze der Konservativen und fungierte zwischen 2010 und 2012 nicht nur als Innen-, sondern auch als Frauen- und Gleichstellungsministerin. Als sie noch im Justizministerium residierte, wurde May mit dem Spitznamen “Tricksy Belle of Marsham Street” belegt.Ihrem Vorgänger David Cameron stand sie nie besonders nahe. Als dieser nach dem EU-Referendum 2016 abtauchte, wurde sie unverhofft Premierministerin, nachdem sich Johnson und Michael Gove überworfen hatten.