Sven Simon

„Die Reaktion der EZB ist ein Erfolg für das Bundesverfassungs­gericht“

Der CDU-Europaparlamentarier über das „konstruktive“ Vorgehen der Europäischen Zentralbank und grundlegende Probleme der europäischen Integration

„Die Reaktion der EZB ist ein Erfolg für das Bundesverfassungs­gericht“

Stefan Reccius.

Herr Simon, Karlsruhe hat die Anträge auf Vollstreckung des EZB-Urteils als unzulässig und unbegründet zurückgewiesen. Sind damit sämtliche Zweifel an der Verhältnis- und damit Rechtmäßigkeit der Staatsanleihekäufe im Fall des regulären Kaufprogramms PSPP ausgeräumt?

Nein. Die unterschiedlichen Aktivitäten von Bundesregierung und Bundestag haben zwar dazu geführt, dass der EZB-Rat die vom Bundesverfassungsgericht vermisste Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Gegenstand gemacht hat. Damit sind die obersten Bundesorgane ihrer Verpflichtung aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 hinreichend nachgekommen. Ob die Verhältnismäßigkeitsprüfung den materiellen Anforderungen in jeder Hinsicht genügt, war im vorliegenden Zusammenhang aber nicht entscheidend.

Eine inhaltliche Bewertung der von EZB, Bundesbank, Bundesregierung und Bundestag ergriffenen Schritte hat Karlsruhe ausdrücklich nicht vorgenommen. Stimmen Sie grundsätzlich überein, dass sie im Zusammenspiel dem Urteil genüge getan haben?

Zumindest hat sich die EZB außerordentlich konstruktiv verhalten. Sie hat deutlich gemacht, dass sie an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gebunden ist, sich aber dennoch offen gezeigt für die Begründungswünsche aus Karlsruhe. Das Verhalten der Bundesbank hat eine Rolle gespielt und auch das öffentlich gemachte Antwortschreiben an das Europäische Parlament, in dem die Verhältnismäßigkeit des PSPP nachvollziehbar begründet wird.

Folgen für Sparer, Mieter, Versicherungsnehmer: Das Bundesverfassungsgericht hatte die unterschiedlichsten Kriterien zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit aufgeworfen. Hat die EZB die Verhältnismäßigkeit der Anleihekäufe Ihrer Meinung nach in der Zwischenzeit plausibel begründet?

Ein entscheidender Punkt für das Verständnis der Verhältnismäßigkeit besteht darin, dass sich die Abwägung der EZB auf den gesamten Währungsraum zu beziehen hat und nicht nur auf einen Mitgliedstaat oder eine Metropolregion, in dem die Menschen übrigens auch höchst unterschiedlich betroffen sind. Zu begrüßen ist die Tatsache, dass die EZB die Anpassung ihrer Inflationsmessungen überprüfen wird, um die tatsächlichen Lebenshaltungskosten künftig besser abzubilden.

Gerade in Deutschland stößt die Geldpolitik der EZB auf immense Kritik. Hat sich da von Seiten der EZB seit dem Urteil etwas getan, um auf die Kritiker zuzugehen?

Na ja, zumindest verfolgt sie eine offenere Kommunikationsstrategie. Eine neue Kontroverse ist über die Rolle der EZB bei der Bekämpfung des Klimawandels entstanden. Hier muss klar sein: Die Auswirkungen des Klimawandels und eine Beschleunigung der politischen Transformation haben makroökonomische Auswirkungen und natürlich Konsequenzen für das Hauptziel der Preisstabilität, aber die EZB darf keine Klima-Investitionsbank werden, das würde ihrem Mandat widersprechen.

Auch mit dem Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP muss sich Karlsruhe befassen. Die EZB geht hier zum Teil weiter als beim PSPP und stützt gezielt einzelne Länder wie Italien. Braut sich hier der nächste Konflikt zusammen?

Zumindest sind im PEPP-Programm nicht alle Voraussetzungen erfüllt, die der EuGH als Maßstab für die Rechtmäßigkeit des PSPP aufgestellt hat. Das heißt nicht zwingend, dass es rechtswidrig ist, zumal sich das Programm faktisch auch anders entwickelt, als es zunächst geplant war. Gleichwohl bleibt der selektive Ankauf von Anleihen vor dem Hintergrund der verbotenen monetären Staatsfinanzierung rechtlich ein Problem. Die währungspolitische Wirkung des PEPP ist allerdings ein Erfolg.

Auch beim EU-Wiederaufbaufonds gibt es Vorbehalte. Täuscht der Eindruck oder fallen die Entscheidungen über den Fortbestand des Euro und/oder der EU mehr denn je in Karlsruhe?

Mein Eindruck ist, dass wir in Europa eine grundsätzlich unterschiedliche Vorstellung über die Bindungswirkung der Verträge haben. Das wird auch in Zukunft immer wieder zu Reibungen führen. Ich denke, dass wir rechtskulturelle Differenzen bei der europäischen Integration zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Europäische Kommission muss in Fragen der Rechtmäßigkeit sorgfältiger arbeiten und ihr Handeln besser begründen. Das gilt teilweise auch für den EuGH.

Welche Folgen hat das für die Zukunft der europäischen Inte­gration?

Im besten Fall nähern wir uns in Europa auch bei rechtsstaatlichen Standards einander an. Die Reaktion der EZB ist ein Erfolg für das Bundesverfassungsgericht. Vielleicht be­kommt der EuGH in naher Zukunft die Chance, über das Wiederaufbauprogramm Next Generation EU zu entscheiden. Wenn das Bundesverfassungsgericht ihm die Frage vorlegt, ob sich der Rat mit diesem Programm im Rahmen der Verträge bewegt hat oder nicht, könnte der EuGH sein Profil als Kompetenzgericht schärfen. Das wäre eine gute Entwicklung für Europa.

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