Ernährungskrise

Die Schlüssel­stellung der Ukraine im Welthandel

Durch den Ukraine-Krieg droht eine globale Ernährungskrise, erläutert Völkerrechtler Moritz von Rochow vom Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht.

Die Schlüssel­stellung der Ukraine im Welthandel

Das 2021 im Suez-Kanal festsitzende Schiff „Ever Given“ hat der Welt einen ersten Vorgeschmack auf die Schattenseiten einer immer stärker vernetzten Welt gegeben. Der Krieg in der Ukraine verstärkt diesen ­Eindruck: Ein lokal begrenztes Er­eignis lässt den globalen Handel wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Doch dieser Eindruck trügt: Nicht der gesamte Welthandel ist gleichermaßen fragil. Vielmehr gibt es einige wenige neuralgische Punkte, die, um es juristisch auszudrücken, eine marktbeherrschende Stellung ha­ben. Der Suez-Kanal ist ein solcher Punkt. Die Ukraine ist ein weiterer.

Eine marktbeherrschende Stellung bestimmt sich nach europäischer Rechtsprechung im Wesentlichen danach, ob ein Marktteilnehmer in der Lage ist, sich von Wettbewerbern, Abnehmern und Verbrauchern unabhängig zu verhalten. Die Grundannahme: Das Wirtschaftsgeschehen kann empfindlich gestört werden, wenn sich Marktmacht konzentriert. Konzept und Definition stammen zwar aus dem Kartell- und Wettbewerbsrecht, lassen sich aber auf die Wirtschaftsbeziehung zwischen Staaten übertragen.

Motivation zum Krieg

Der Krieg in der Ukraine offenbart hier drei Phänomene: Erstens hat ein Störfall an einem solch neuralgischen Punkt gravierende Auswirkungen auf das gesamte globale Handelsgeschehen. Zweitens sind Sanktionen dort besonders effizient, wo sie an solchen neuralgischen Punkten ansetzen. Drittens ermöglicht die politische (und militärische) Kontrolle über solch neuralgische Punkte eine marktbeherrschende Stellung und verlockt zu deren Missbrauch.

Man könnte diese neuralgischen Punkte als Scheitelsteine bezeichnen: Aus einem gemauerten Gewölbe können beliebig viele Steine entfernt werden, ohne dass dieses zusammenbricht. Entfernt man aber den Scheitelstein (Schlussstein), stürzt die ge­samte Konstruktion ein. Die Funktion der Ukraine als Scheitelstein erklärt einerseits, warum der dortige Krieg auf das weltweite Handelsgeschehen so gravierende Auswirkungen hat und noch viel mehr haben wird. Zum anderen erklärt sie Russlands wirtschaftliche Motivation zum Krieg.

Die Ukraine versorgt die Welt mit 50% des Marktes für Sonnenblumenöl. Russland und die Ukraine liefern zusammen 30% der weltweiten Weizenexporte. Beide Staaten sorgen im Wesentlichen für die Ernährungssicherheit in Afrika und dem Nahen Osten. Viele Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens beziehen zwischen 60 und 80% ihres Weizens aus Russland und der Ukraine. Einige hatten erst kürzlich mit Dürren zu kämpfen, so dass Vorräte nahezu aufgebraucht sind.

Mittelfristig erschweren die Rationierung von Diesel zugunsten der ukrainischen Armee und zulasten der Landwirtschaft sowie die Zerstörung landwirtschaftlicher Infrastrukturen wie Äcker und Getreidesilos Aussaat und Ernte: Der Großteil der ukrainischen Weizenanbaufläche befindet sich in Gebieten, die entweder von der russischen Armee besetzt oder zumindest in deren Reichweite sind. Kurzfristig ist die Welternährung allerdings vor allem durch die Störung der Exportwege gefährdet: Russland und die Ukraine haben im Zeitraum 2020/2021 55,4 Mill. Tonnen Weizen exportiert. Die gesamte EU exportierte im gleichen Zeitraum nur etwas mehr als die Hälfte.

Blockierte Häfen

Ein Problem sind die blockierten Häfen: 1,25 Mill. Tonnen Getreide und Ölsaaten harren seit Beginn des Krieges ihres Weitertransports und drohen zu verderben. Für die Welternährung noch gravierender – da auch russischen Weizen umfassend – ist es für die Nahrungsversorgung Afrikas und des Nahen Ostens, dass die Schiffsversicherer inzwischen aufgrund von treibenden Seeminen die Haftung für Fahrten ins Schwarze Meer verweigern oder drastisch verteuern. Eigentlich verbietet das humanitäre Völkergewohnheitsrecht solche sich nicht selbst deaktivierenden Kontaktminen. Auch der russische Weizenexport über das Schwarze Meer ist daher weitgehend zum Erliegen gekommen. Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft wird die Getreideproduktion der Ukraine um 50% zurückgehen und die Transportkosten werden wegen der Unterbrechung der Handelswege aus der Ukraine um 50%, aus Russland um 25% steigen.

Auch Dünger großes Problem

Langfristig könnte es für die importierenden Staaten eine Option sein, ihre Nahrung verstärkt selbst anzubauen. Dies begegnet jedoch einem weiteren Problem, das eine Ursache ebenfalls in der wirtschaftlichen Schlüsselstellung der Ukraine hat: Nicht nur, dass Russland einen Exportstopp für Dünger verhängt hat: Das ukrainische Odessa war bis dato einer der wichtigsten Ausfuhrhäfen für russischen Kali- und Ammoniak-Dünger – insbesondere, nachdem der Hafen in Klaipeda für Belarus nicht mehr verfügbar war. Belarus, einer der bedeutendsten Produzenten von Kali-Dünger, ist nämlich dank amerikanischer und europäischer Sanktionen bereits seit 2021 daran gehindert, seinen Dünger über EU-Gebiet auszuführen.

Dem Versuch, weißrussischen Ka­li-Dünger statt über Klaipeda ebenfalls über Odessa zu exportieren, ist die Ukraine Anfang 2022 entgegengetreten. Russische Häfen haben nicht die Kapazitäten, um kurzfristig einzuspringen. Russland und Belarus produzieren 33% des weltweiten Kali-Düngers (Pottasche), der seinen Absatz hauptsächlich in Sub­sahara-Afrika findet. Beide Länder sind mit jeweils ca 8–9 Mill. Tonnen pro Jahr nach Kanada die größten Produzenten dieses Rohstoffs. Auch die Stickstoffdüngerproduktion ist vom Ukraine-Krieg be­troffen, da dieses Düngemittel im Wesentlichen aus Erdgas gewonnen wird.

Schon 2021 hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gewarnt, dass sich Stickstoffdüngerpreise über das letzte Jahr sogar vervierfacht hätten. Gleichzeitig warnte die FAO vor drastisch steigendem Hunger in Arabien und Teilen Afrikas infolge steigender Preise und wegen Dürren. Die Sanktionen gegen Russland und Belarus sowie die logistischen Schwierigkeiten in der Ukraine werden das Problem mittel- bis langfristig noch verschärfen. Die durch den Mangel steigenden Preise führen zu einer sparsameren Verwendung entsprechender Düngemittel und damit zu sinkenden Erträgen. Über die Jahre werden die Böden hierdurch ausgelaugt und schließlich unfruchtbar.

Dies betrifft die ärmeren Länder in Südamerika, vor allem aber in Afrika und dem Nahen Osten. An dieser Stelle muss in Erinnerung gerufen werden, dass auch der Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 sowie die Flüchtlingswelle 2015/16 ihre Ursache in Nahrungsmittelknappheiten in diesen Regionen hatten.

Der Ukraine-Krieg hat damit das Potenzial, sich zu einem „Weltkrieg“ auszuweiten – nicht weil sich Staaten der gesamten Welt mit ihren Armeen gegenüberstehen, sondern weil die wegen des Ukraine-Krieges gefährdete Welternährung zu Flucht und Unruhen führen wird.

China schafft Abhängigkeiten

China hat diese Gefahr sehr früh erkannt und seit einigen Jahren begonnen, Getreidevorräte zu horten und den selbst produzierten Dünger nicht länger zu exportieren. Schätzungen zufolge sitzt China auf der Hälfte der weltweiten Vorräte an Weizen. Bei Reis sind es 60%, bei Mais zwei Drittel. Genug, um kurzfristig für politische Gegenleistung ganz Nordafrika und den Nahen Osten zu versorgen oder dort die einheimische Landwirtschaft durch Landnahme in die Knie zu zwingen. Diese chinesische Praxis ist seit Langem ein Problem in Afrika.

Würde Russland den Krieg gewinnen oder zumindest die Kontrolle über die großen Anbaugebiete und Häfen erlangen, könnte es die Ernährung Afrikas und des Nahen Osten nahezu im Alleingang dirigieren. Der Verlockung des „Missbrauchs dieser marktbeherrschenden Stellung“ zur politischen Einflussnahme dürfte Russland dann kaum widerstehen können: Hörige afrikanische und arabische Regierungen und ein sich über Flüchtlingsfragen zerstreitendes Europa sind für den russischen Bären der lohnendste Honigtopf, der sich bei diesem Krieg gewinnen lässt.

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