Die Sprichwörter und die Illusionen
Ein Streifzug durch den russischen Sprichwortschatz ist ein kurzweiliger Zeitvertreib und eine lehrreiche Landeskunde zugleich. Natürlich transportieren die weniger komplexen unter den Sentenzen auch eine schöne Portion Stereotype – was nichts an ihrer Unterhaltsamkeit ändert. Etwa jenes Sprichwort, demzufolge 100 Kilometer keine Distanz sind, 100 Jahre kein Alter und 100 Gramm kein Wodka. (Ja, man misst das Nationalgetränk in Gramm, nicht in Zentiliter).Aufschlussreicher – und angesichts der aktuellen Beschränkungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus relevanter – sind die etwas komplexeren Sprichwörter, legen sie doch ein Denken frei, das das menschliche Ringen im Dreieck von Gott, Staat und Eigenverantwortung zeigt. Dies umso mehr, als in Russland ja die historische Periode der Aufklärung, in der im Westen das Individuum zu seinen Rechten (und als Folge davon auch zu seinen Pflichten bzw. zur Eigenverantwortung) gegenüber den Machthabern und gegenüber dem Kollektiv gekommen ist, so nicht stattgefunden hat. Die fehlende Emanzipation aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, wie der Philosoph Immanuel Kant den voraufklärerischen Zustand beschrieb, war und ist in Russland insofern umso fataler, als sich darauf die kommunistische Diktatur blendend entwickeln konnte – mit der Folge, dass auffällig viele bis heute einem Fatalismus anhängen, der keinen Glauben an Veränderungsmöglichkeiten und an die Sinnhaftigkeit des eigenen Beitrags zu Verbesserungen aufkommen lässt.Dabei ist die Eigenverantwortung in den Sprichwörtern durchaus entwickelt. So heißt es in einem davon: “Vertrau auf Gott, aber mach selbst keine Dummheiten!” – ein Satz, der nicht selten auf Halsketten russischer Soldaten zu finden ist. Gott wird selbstverständlich und häufig im Spiel gehalten, aber eben nicht als Ersatz für menschliches Handeln, sondern als Beistand. Einem häufig zitierten Sprichwort zufolge ist es nämlich so, dass “derjenige von Gott behütet wird, der selbst behutsam ist”. Genau zu diesem Sprichwort griff denn auch Staatspräsident Wladimir Putin, um angesichts der Corona-Pandemie die Weitsicht des Kremls zu untermauern, als er Ende März die diversen Beschränkungen und den Sonderurlaub ausrief.Dass die Mehrheit der Bevölkerung selbst behutsam und eigenverantwortlich ist, glaubt er sichtlich nicht, hat er den Russen ja schon in früheren Jahren etwa die Reife zur Demokratie mit Verweis auf die russische Geschichte abgesprochen, um damit wohlgemerkt implizit zu sagen, dass er als gelernter Geheimdienstmann zu den wenigen gehöre, die Demokratie verstehen und den diesbezüglichen Reifegrad der anderen bewerten könne.Tatsächlich werden die aktuellen Beschränkungen aufgrund des Coronavirus gerade in der breiten Masse und in der Elite nicht so selten gebrochen oder kreativ interpretiert. Wie das mit dem autoritären System und der Unterwürfigkeit der Russen zusammenpasst? So, wie es das Sprichwort sagt: “Russland ist groß, und der Zar ist weit”, soll heißen, man wird aufgrund der Geografie des Landes ja ohnehin nicht kontrollieren können, wer die Anweisungen tatsächlich befolgt.Genau dahinter verbirgt sich ein Kulturspezifikum, das in der aktuellen Pandemiesituation so klar wie schon lange nicht zutage tritt: Establishment und Masse koexistieren in Form zweier Parallelwelten, die einander möglichst wenig überschneiden. Getragen wird das Ganze durch Simulation und Mythos: Die Menschen simulieren, dass sie die Anordnungen von oben internalisiert haben und ausführen, und die Behörden simulieren, dass sie alles kontrollieren und im Griff haben. Mit anderen Worten: Es herrscht die konsequent gepflegte Illusion, dass das Volk wie in Europa aus Einsicht selbstverantwortlich handelt und die Anordnungen quasi freiwillig befolgt und dass die Machthaber eine Durchsetzungskraft wie das diktatorische China haben.Mit der Illusion ist das freilich so eine Sache, wie ein Sprichwort hinsichtlich der traditionellen russischen Partnerschaft von Mann und Frau andeutet. Gemeinhin wird ja angenommen, dass der Mann in der Familie das Sagen hat. Nichts da, desillusioniert das Sprichwort: “Der Mann ist das Haupt, aber die Frau ist der Hals. Und es ist immer noch dieser, der bestimmt, wohin sich der Kopf zu drehen hat.”