Die Türkei am Scheideweg
Die Türkei am Scheideweg
Abwahl Erdogans würde Innen- und Außenpolitik des Landes stark verändern – Umfragen deuten auf knappes Ergebnis hin
Demokratisierung oder weitere Autokratisierung, wieder engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union oder Konfrontation mit dem Westen: Die Präsidentschaftswahlen in der Türkei haben Auswirkungen weit über das Land am Bosporus hinaus. Der Ausgang der Wahl ist dabei noch völlig offen – und ob Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren würde.
mpi Frankfurt
Das Wort „Schicksalswahl“ fällt oft, wenn von den Präsidentschaftswahlen in der Türkei an diesem Sonntag die Rede ist. Kein Wunder: Eine Wiederwahl des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von der rechtskonservativen Partei AKP gilt dieses Mal alles andere als gesetzt. Und ein Sieg seines Herausforderers Kemal Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen Partei CHP hätte nicht nur gravierende Auswirkungen für die Türkei, sondern auch für Deutschland, die Europäische Union und die Nato.
„Ein Wahlsieg der Opposition hätte eine Rückkehr zum Parlamentarismus und zur Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank sowie einen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Außenpolitik zur Folge“, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Das Oppositionsbündnis, das aus insgesamt sechs Parteien besteht, möchte eine Annäherung an den Westen erreichen. Das Bündnis kündigte an, darauf achten zu wollen, dass Sanktionen gegen Russland nicht über Exporte in die Türkei und anschließende Exporte nach Russland umgangen werden. Außerdem will die Opposition bei einem Wahlsieg das türkische Veto gegen die Nato-Mitgliedschaft Schwedens aufgeben.
Die Änderungen in der Innenpolitik bei einem Regierungswechsel könnten für europäische Unternehmen interessant werden. „Die Türkei hofft seit längerem, stärker zum Standort für die europäische Produktion zu werden“, sagt Seufert. Die mangelnde Rechtssicherheit in der Türkei habe dem aber im Weg gestanden. Wieder unabhängige Gerichte könnten ausländische Unternehmen dazu animieren, stärker in der Türkei zu investieren.
Wahlbeobachter in Sorge
Ob es zu einem Regierungswechsel kommen wird, ist noch völlig offen. Je nach Meinungsforschungsinstitut liegt Erdogan knapp vorne oder Kilicdaroglu führt mit bis zu fast 10 Prozentpunkten. Seufert führt gleich mehrere Punkte an, weshalb Erdogan um sein Amt fürchten muss: den Niedergang der türkischen Wirtschaft in den vergangenen Jahren verbunden mit einer Schulden- und Finanzkrise, die abgekühlten Beziehungen zu anderen Ländern in der Region wie Ägypten und die Entdemokratisierung der Türkei unter Erdogan. „Die Opposition ist ideologisch sehr heterogen, aber sie eint das Ziel, das Präsidialsystem unter dem Alleinherrscher Erdogan abzuschaffen“, sagt Seufert. Auch die „miserabel organisierten Rettungsarbeiten“ nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar habe noch unentschlossene Wähler Abstand von Erdogan nehmen lassen.
Der Westen dürfte Kilicdaroglu die Daumen drücken, doch ein Wahlsieg der Opposition würde auch Probleme mit sich bringen. Das Bündnis dürfte eine Aussöhnung mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad anstreben und darum bemüht sein, syrische Flüchtlinge in der Türkei wieder in ihr Heimatland zurückzuschicken. „Die EU ist nicht bereit, das zu unterstützen, aber ihr würde es leichter fallen, sich der Kooperation darin unter einem türkischen Präsidenten Erdogan zu verweigern, als unter einem Präsidenten Kilicdaroglu, den man wegen des Demokratisierungsprozesses eigentlich unterstützen möchte“, meint Seufert.
Sorgen bereitet Wahlbeobachtern, ob die Präsidentschaftswahlen am Ende wirklich an der Wahlurne entschieden werden. „Es gibt aus unserer Sicht ganz viele Merkmale bei diesen Wahlen und dem Zustand der Türkei, die große Besorgnis hervorrufen“, sagt Frank Schwabe, Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Zwar gebe es eine aktive türkische Zivilgesellschaft und Wählfälschungen könnten auffallen. Doch eine andere Frage ist, wie es in einem solchen Falle weitergehen würde. Die türkische Wahlaufsichtsbehörde steht etwa fest unter dem Einfluss Erdogans. Außerdem beunruhigt eine Aussage des türkischen Innenministers Süleyman Soylu (AKP). „Der 14. Mai 2023 ist der politische Putschversuch des Westens“, sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul. Die Äußerung schürt Zweifel, ob Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren würde.