IM INTERVIEW: FRITZ ZURBRÜGG

"Die Unsicherheit ist groß"

Der SNB-Vizepräsident über die Folgen eines Brexit für den Franken und die Liebe der Schweizer zur 1 000-Franken-Note

"Die Unsicherheit ist groß"

Die Schweizerische Nationalbank hat die Möglichkeit eines Brexit schon lange im Blick, und Fritz Zurbrügg, Vizepräsident des dreiköpfigen SNB-Direktoriums, räumt ein: “Die Unsicherheit ist groß.” Ein Austritt der Briten aus der EU wäre gar nicht nach dem Geschmack der Frankenhüter, denn es könnte die Nachfrage nach der helvetischen Valuta neu stimulieren. Dabei ist der Franken laut Zurbrügg immer noch “deutlich überbewertet”.- Herr Zurbrügg, die Briten stimmen in drei Wochen über den Verbleib ihres Landes in der EU ab. Inwiefern beeinflusst dieser Volksentscheid die Politik der Schweizer Nationalbank?Grundsätzlich wird unser Land von allen wirtschaftlich wichtigen Vorgängen im Ausland tangiert. Das kommt daher, dass die Schweiz als kleine, offene Volkswirtschaft sowohl über die Güter- als auch über die Finanzmärkte stark mit dem Ausland verbunden ist. Zudem haben Entwicklungen in Großbritannien als wichtigem Land einen großen Einfluss auf Europa, und dieses ist wiederum speziell wichtig für die Schweizer Wirtschaft. Die Szenarien rund um den Ausgang der Abstimmung sind daher schon lange ein fester Bestandteil unserer Lageanalysen, die für unsere geldpolitischen Entscheidungen die Basis bilden.- Das Pfund war in den Krisenzeiten des Euro immer auch eine Fluchtwährung und damit eine Alternative zum Franken. Was passiert, wenn das Pfund durch einen Brexit an Attraktivität verliert?Ich will nicht auf einzelne Szenarien eingehen. Aber die Unsicherheit ist groß, und das nicht nur in der Politik, sondern eben auch auf den Finanzmärkten. Wenn sich deshalb das internationale Währungsgefüge bewegt, dann kann das auch den Franken beeinflussen.- Zum ersten Mal seit der Aufgabe des Euro-Mindestkurses bewegt sich der Franken einigermaßen stabil um die Marke von 1,10 Euro. Ist das der neue Gleichgewichtskurs, auf den wir uns einstellen müssen?Es gibt verschiedene Modelle, mit denen man Gleichgewichtskurse berechnen kann, und die allermeisten dieser Modelle zeigen nach wie vor, dass der Franken deutlich überbewertet ist.- Aber es ist doch ein Fakt, dass die SNB deutlich weniger am Devisenmarkt interveniert, als sie das Anfang 2015 tun musste. Ist das kein Zeichen, dass hier ein Gleichgewicht entstanden ist?Wir haben immer gesagt, dass wir für die Umsetzung unserer Geldpolitik neben dem Zinsinstrument jederzeit auch wieder Devisenmarktinterventionen tätigen können. Wir haben im vergangen Jahr für 86 Mrd. Franken Fremdwährungen gekauft und damit klar gezeigt, dass wir auf dem Markt aktiv sind, wenn ein Bedarf vorhanden ist.- Aber die 86 Mrd. Franken haben Sie größtenteils kurz nach dem Ende des Mindestkurs-Regimes Anfang 2015 eingesetzt. Inzwischen intervenieren Sie nur noch relativ wenig, was doch als Bekenntnis zum Gleichgewichtskurs verstanden werden kann.Nein, so dürfen Sie das nicht verstehen. Die Nationalbank hat kein neues Wechselkursziel. Und Sie dürfen auch nicht vergessen, dass wir uns die Wechselkursverhältnisse insgesamt anschauen, nicht nur den Kurs des Franken gegenüber dem Euro.- Ein Brexit könnte eine neue Fluchtbewegung in den Franken auslösen. Unsere Negativzinsen sind aber bereits auf Weltrekordniveau – viele Experten sagen, das Instrument sei ausgereizt. Haben sie recht?Sie sagen es selber: Wir sind mit einem Negativzins von minus 0,75 % schon sehr weit gegangen. Da es sich beim Negativzins aber um ein neues Instrument handelt, haben wir noch keine Erfahrung, wann und mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist.- Das klingt wie eine Warnung.Hätten Sie vor zehn Jahren jemandem gesagt, dass wir mit den Zinsen einmal dahin kommen würden, wo wir heute sind, es hätte Ihnen keiner geglaubt. Es ist deshalb klar, dass wir auch die Auswirkungen der Negativzinsen zum Beispiel auf die Sparer oder auf die Bargeldnachfrage vor jeder geldpolitischen Entscheidung neu abwägen. Aber grundsätzlich bleibt es möglich, dass wir den Zins weiter senken.- Sie haben die hohen Kosten der Negativzinsen zum Beispiel für die Sparer angesprochen. Was ist der Gegenwert dafür?Der Gegenwert für den Negativzins ist die Reduktion des Drucks auf den Franken, weil sich die Zinsdifferenz zu Anlagen in Fremdwährung wieder vergrößert hat. Dadurch beeinflussen wir Teuerung und Wachstum in die gewünschte Richtung. Für die Sparer ist es wichtiger, dass die Wirtschaft wächst, als dass sie zugunsten eines höheren Zinses vielleicht für lange Zeit mit einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung mit entsprechenden Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt leben müssen. Eine stärkere Wirtschaft und die Rückkehr zu positiven Inflationsraten, das ist es, was wir mit unserer Politik im Gesamtinteresse der Schweiz erzielen wollen.- Daniel Lampart vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund sitzt im Bankrat der Nationalbank, und er sagt seit dem Ende des Mindestkurs-Regimes: Es gibt nur einen Weg zurück zu Wachstum, das ist die Wiedereinführung des Mindestkurses. Was spricht dagegen?Wir haben den Mindestkurs aufgehoben, weil er aufgrund der internationalen Entwicklung nicht mehr nachhaltig war. Wir hätten ihn mit massiven Interventionen durchsetzen müssen und so riskiert, die Kontrolle über die Geldpolitik zu verlieren. Und das ohne Aussicht auf eine wirkliche Stabilisierung der Wechselkurslage. Wir sind überzeugt, dass wir unter den aktuellen Umständen unser Mandat mit den beiden Instrumenten, die wir jetzt gebrauchen, am besten umsetzen können.- Die Nationalbank war im Dezember mit einer Wachstumsprognose für die Schweiz von 1,5 % für 2016 so mutig, dass sie schon drei Monate später zurückrudern musste. Wie viel Zweckoptimismus ist bei Ihren Prognosen im Spiel?Wir machen keinen Zweckoptimismus. Wir stützen uns auf sehr solide Analysen unserer Experten und erstellen Prognosen, die nachvollziehbar sein müssen. Wir haben unsere Schätzung auf 1 bis 1,5 % angepasst. Damit sind wir nicht sehr weit weg von dem, was andere prognostizieren. Die Revision der Prognose erfolgte wegen der leicht schlechteren internationalen Konjunktur.- Wie breit ist das Wachstum in der Schweiz denn abgestützt?Die verarbeitende Industrie hat sich relativ gut gehalten, vor allem dank der Pharmabranche, die gut gewachsen ist. Der Maschinenbau und die metallverarbeitenden Unternehmen sind immer noch sehr stark unter Druck, weil sie von der Nachfrage nach Investitionsgütern abhängig sind, und diese ist in dem vorherrschenden unsicheren Klima deutlich gedämpft. Auch Handel und Tourismus kämpfen weiter mit großen Problemen.- Die Pharmabranche beschäftigt relativ wenig Personal, verglichen mit der Maschinen- und Metallindustrie. Und auch Handel und Tourismus sind personalintensive Sektoren. Dieses einseitige Wachstum kann Ihnen nicht gefallen.Natürlich möchten wir ein breiter abgestütztes Wachstum. Aber man muss auch sehen, dass unsere Wirtschaft mit dem starken Franken und dem relativ schwachen Wachstum der Weltwirtschaft ziemlich gut zurechtkommt. Die Firmen haben unglaublich schnell reagiert und Maßnahmen ergriffen. Das beeindruckt mich bei Firmenbesuchen immer wieder aufs Neue.- Vor etwa zwei Jahren fragten wir Thomas Jordan über die wirtschaftlichen Folgen der Masseneinwanderungsinitiative. Er sagte, es sei zu früh für eine Prognose. Ist es immer noch zu früh?Ja, es ist immer noch zu früh, weil es ja noch keine politische Lösung gibt. Es ist aber eine Tatsache, dass die Einwanderung in den vergangenen Jahren einen großen Einfluss auf unser Wachstum hatte. Die erwerbstätige Bevölkerung in der Schweiz befindet sich auf einem historischen Höchstpunkt.- In der verarbeitenden Industrie kam es in den vergangenen zwei Jahren zu sehr vielen Stellenverlusten. Wie bewerten Sie die Gefahr einer Deindustrialisierung?Die Schweizer Wirtschaft steht in puncto Wettbewerbsfähigkeit weltweit auf einem Spitzenplatz, und das seit Jahren. Wenn Sie sich den langjährigen Strukturwandel genau ansehen, werden Sie feststellen, dass immer wieder neue Produkte und Geschäftsaktivitäten entstanden sind, die kompensieren konnten, was hierzulande nicht mehr produzierbar ist. Wenn Sie zehn Jahre zurückschauen, sehen Sie, dass der Anteil des Industriesektors an der Wirtschaftsleistung fast gleich hoch geblieben ist.- Aber die Schweiz ist eine Hochleistungswirtschaft geworden. Für Leute mit durchschnittlicher oder unterdurchschnittlicher Ausbildung bietet der Arbeitsmarkt immer weniger Platz. Müssen wir uns da nicht Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft machen?Das sind mit Blick auf die fortlaufende Strukturanpassung sehr wichtige Fragen. Wir können als Nationalbank aber nur die uns übertragenen Aufgaben möglichst gut erfüllen. Damit tragen wir unseren Teil zur Stärke der Schweizer Wirtschaft bei. Wenn Sie sich die Gründe für die Standortvorteile der Schweizer Wirtschaft vor Augen führen, dann fallen da auch Faktoren wie die Glaubwürdigkeit der Institutionen oder die konsistente Wirtschaftspolitik ins Gewicht.- Sie können also unmöglich mehr tun?Wir haben einen gesetzlichen Auftrag, und diesen versuchen wir mit unseren Instrumenten zu erfüllen. Mehr können wir nicht machen. Aber unterschätzen Sie nicht, wie wichtig die Preisstabilität für die Entwicklung der Volkswirtschaft ist. Es geht zum Beispiel um das Vertrauen, heute eine Investition tätigen zu können, deren Wert in 20 Jahren nicht durch Inflation erodiert wird.- Sie sagen, die Sicherung der Preisstabilität sei der beste Beitrag, den die Nationalbank für das Land leisten könne. Aber die Inflationsraten sind negativ, und das schon lange. Verfehlen Sie Ihren Auftrag?Nein. Die tiefen Erdölpreise und die übrigen Importe, die durch den starken Franken billiger geworden sind, haben das Preisniveau bei uns stark gedrückt. Der Erdölschock ist klar ein vorübergehendes Phänomen. Der Einbruch des Erdölpreises liegt nun ein Jahr zurück. Seither ist kein neuer Druck auf die Teuerung mehr entstanden.- Und der Franken-Schock?Die Aufwertung des Franken nach der Aufhebung des Mindestkurses hatte eine starke Auswirkung auf die Teuerung. Doch auch dieser Effekt lässt langsam nach, wie die neueste Entwicklung der Inflationsrate zeigt.Die mittelfristigen Inflationserwartungen über fünf Jahre liegen gemäß Umfragen bei 1,2 %.- Müssten Sie nicht einen Wert von etwa 2 % anstreben?Das ist das Ziel zum Beispiel der Europäischen Zentralbank, aber nicht von uns. Die EZB strebt eine Inflation von weniger als 2, aber nahe 2 % an. Wir wollen eine positive Inflation von unter 2 %. Wir haben im Unterschied zu vielen anderen Notenbanken kein Punktziel, weil die Preisschwankungen in der Schweiz als kleiner, offener Volkswirtschaft sehr groß sein können.- Sie hatten die Bargeldnachfrage als Begleiterscheinung der Negativzinspolitik erwähnt. Wäre Ihr Leben nicht leichter, wenn es die Ausweichmöglichkeit des Bargeldes gar nicht gäbe?Die Gewährleistung der Bargeldversorgung ist eine unserer gesetzlichen Aufgaben. Bargeld hat eine wichtige Funktion im Zahlungsverkehr in der Schweiz, und diese stellen wir sicher.- Aber man könnte sich ja auch vorstellen, dass Sie zur Durchsetzung Ihrer Politik gezielte Bargeldrestriktionen zum Beispiel gegenüber Pensionskassen vornehmen.Die Nationalbank hat erstens keine gesetzliche Grundlage, Bargeldtransaktionen mit einer Steuer zu belasten. Zweitens haben die Pensionskassen kein Konto bei der Nationalbank und damit auch keinen Bargeldverkehr mit uns. Wir streiten nicht ab, dass der Negativzins ab einer bestimmten Höhe eine Substitution ins Bargeld bewirken könnte. Das beobachten wir aber im Moment nicht.- Was wären die Hauptprobleme einer solchen Bargeldsubstitution?Ein Ausweichen aufs Bargeld würde die Wirkung der Negativzinsen tendenziell unterwandern, welche ja den Zweck haben, Aufwertungsdruck vom Franken zu nehmen. Es ginge hier aber um sehr große Beträge von Hunderttausenden Franken oder noch viel mehr. Transport und Lagerung solcher Summen Bargeld sind mit hohen Kosten und Risiken verbunden. Stellen Sie sich nur eine Pensionskasse vor, die ihren Versicherten den Verlust von Bargeld mitteilen müsste.- Was halten Sie vom Argument, Bargeld sei das bevorzugte Zahlungsmittel der Kriminellen und gehöre deshalb abgeschafft?Wir von der Nationalbank haben darüber keine Informationen. Oft bezieht sich diese Diskussion ja auf Noten mit hoher Denomination. Erst vor etwa drei Wochen hat der Bundesrat auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage geantwortet und festgestellt, dass keine Hinweise auf eine missbräuchliche Verwendung von Banknoten mit einem hohen Nominalwert vorliegen. Die Nationalbank hat keine Pläne, die 1 000er-Note abzuschaffen – die wir im Übrigen seit der Gründung der Nationalbank kennen.- Obwohl das Thema längst in den obersten Sphären der Politik angekommen ist?Die EZB hat sich gegen die Ausgabe neuer 500-Euro-Scheine ausgesprochen. In der Schweiz hat die Nationalbank gemäß Gesetz die Kompetenz, den Nennwert der Noten zu bestimmen. Aber vergessen wir nicht: Bargeld hat in der Schweiz einen hohen Stellenwert, und auch die 1 000er-Note wird nach wie vor oft als Zahlungsmittel verwendet. Es ist also wie mit den Negativzinsen: Man muss die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen, und in der Schweiz ist es nun mal so, dass die 1 000-Franken-Note einen wichtigen Teil des Zahlungsverkehrs darstellt.- Sie haben soeben die Lancierung einer neuen Banknotenserie gestartet. Es ist die neunte insgesamt in der Geschichte des Franken. Wie viele wird es noch geben?Ich hüte mich vor einer Prognose. Das Bargeld steht immer noch hoch im Kurs, obschon es inzwischen viele bequeme Formen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs gibt. Sicher ist, dass wir beabsichtigen, weiterhin alle 15 bis 20 Jahre eine neue Banknotenserie zu entwickeln, um den Fälschern vorauszubleiben.—-Das Interview führte Daniel Zulauf.