IM INTERVIEW: JOHN GREENWOOD

"Die Währungsunion ist zu groß"

Der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters Invesco über den Brexit, die Eurozone und Geldpolitik

"Die Währungsunion ist zu groß"

John Greenwood gehört zu denjenigen in der City, die dem britischen Votum für den Brexit etwas abgewinnen können. Er hält den Rückgang des Wirtschaftswachstums für eine vorübergehende Erscheinung. Wenn das Land seine Wettbewerbsvorteile ausspielen könne, werde es auch jenseits der EU gedeihen.- Herr Greenwood, wird es einen Brexit-Deal geben?Ich glaube, dass die britische Regierung versuchen wird, einen Deal zu machen. Aber ob sie den auch durchs Parlament bekommt, ist eine andere Frage. Das sind zwei Schritte, die mit großer Unsicherheit befrachtet sind. Das Endergebnis ist unklar. Deshalb gibt es so viel Zurückhaltung bei Investitionsvorhaben. Andererseits wird in London an jeder Ecke gebaut. Aus meiner Sicht haben die Leute eine viel zu kurzfristige Sichtweise.- Was wäre langfristig betrachtet anders?Die britische Bevölkerung hat sich an dieses System von durch die EU verzerrten Preisen gewöhnt, etwa bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Es gibt keinen Grund dafür, dass Großbritannien Teil dieses Systems sein sollte. Nehmen wir zum Beispiel Orangen. In Spanien werden Orangen angebaut und die EU ist in hohem Maße protektionistisch, wenn es um Orangen geht. Könnten die Bewohner Großbritanniens ihre Orangen auf dem Weltmarkt kaufen, bekämen sie sie viel billiger. Und es gibt viele, viele Beispiele dieser Art. Ausländische Autos werden durch Zölle und den geforderten inländischen Wertschöpfungsanteil draußen gehalten. In erster Linie geschieht das, um Volkswagen, Peugeot, Fiat etc. zu schützen. Auf britischen Straßen sind deshalb in erster Linie Fahrzeuge aus europäischer Produktion unterwegs.- Ist das so schlecht?Früher waren dort viel mehr Autos aus allen Teilen der Welt zu sehen. Es gab eine größere Vielfalt: amerikanische Wagen, japanische … Heutzutage hätten wir vermutlich mehr koreanische und chinesische Autos.- Was wird sich ändern?Es ist sehr schwer zu sagen, zu welchen Veränderungen es kommen wird, weil wir die Konditionen des Austritts nicht kennen. Ich werde da keine Vorhersagen machen. Beim Brexit handelt es sich um ein Problem, für das es nur eine Ecklösung gibt. Beim Handel geht es um die Frage, ob man, wie beispielsweise Bauern und das verarbeitende Gewerbe, den Status quo favorisiert und sich damit in der einen Ecke der Indifferenzkurve befindet oder ob man den Verbraucher bevorzugt und Güter aus der ganzen Welt so billig wie möglich kaufen will. Dann befindet man sich in der anderen Ecke. Es gibt keine für alle Seiten faire Lösung, die Industrie und Verbrauchern gleichermaßen gerecht würde.- Aber wer befindet sich in der gleichen Ecke wie die Verbraucher?Unternehmen, die Komponenten aus Ländern jenseits der EU kaufen. Sie sind nicht so gut organisiert. Und die Verbraucher können sich nicht so gut artikulieren. Es wird weithin damit gerechnet, dass die Verbraucherpreise um 8 bis 12 % fallen würden, wenn Großbritannien aus der EU austreten und auf die Erhebung vergleichbarer Zölle verzichten würde. Das wäre für ärmere Menschen sehr vorteilhaft, denn es beträfe Lebensmittel und andere Dinge, auf die sie einen großen Teil ihrer Einkommen verwenden.- Angeblich findet sich der Gegenwert der bisherigen Wachstumsverlangsamung in Form von Cash auf den Unternehmensbilanzen wieder.Das sind nur die kurzfristigen Auswirkungen auf die Unternehmensinvestitionen. Wenn der Deal erreicht worden ist, werden wir wissen, was britische Unternehmen tun können und was nicht. Werden zahlreiche EU-Restriktionen eliminiert, wird sich der Wettbewerbsvorteil Großbritanniens verändern. Als Australien, Israel oder Neuseeland den Handel in den 1980er und 1990ern deregulierten, veränderte sich dessen Zusammensetzung ihrer Volkswirtschaften und ihres Handels zum Teil drastisch, insbesondere im Fall von Israel. Australien ist ein bisschen anders gelagert, weil es vor allem Rohstoffe exportiert. Aber ich würde erwarten, dass es in Großbritannien zu einer Verschiebung hin zu Sektoren kommt, in denen das Land Wettbewerbsvorteile hat. Ein schwächeres Pfund würde dabei helfen, aber entscheidend ist, dass wir unsere Wettbewerbsvorteile ausspielen können. Dann gibt es keinen Grund, warum unsere Wirtschaft nicht gedeihen sollte. Ich glaube nicht, dass der Rückgang des Wirtschaftswachstums mehr als eine vorübergehende Erscheinung ist. Und Großbritannien wächst um die 1,5 %, was ziemlich nahe am europäischen Durchschnitt liegt.- Und nachdem Großbritannien lange Jahre schneller gewachsen ist als Resteuropa, kommt eine Verlangsamung auch nicht überraschend.Ja, ich mache mir darüber keine allzu großen Sorgen.- Das Pfund hat gegen den Dollar nachgegeben.Der Wechselkurs ist ein Instrument, um die Volkswirtschaft dazu in die Lage zu versetzen, sich hin zu anderen Formen der Aktivität zu entwickeln.- Wäre es nicht vorteilhaft für Großbritannien, abzuwerten?Kurzfristig schmerzt es die Verbraucher, weil die Importpreise steigen. Aber ein Land muss seine Kosten auf ein Niveau senken, auf dem es wettbewerbsfähig ist. Darauf kann man dann aufbauen.- Wären nichttarifäre Handelshemmnisse ein Problem nach dem Brexit? Nach den WTO-Regeln sind sie doch illegal.Sie werden aber weithin angewandt. Die EU hat eine Vielzahl davon. Denken Sie an Produktstandards, arbeitsrechtliche Erfordernisse oder Anforderungen an den inländischen Wertschöpfungsanteil. All das sind im Grunde nichts anderes als nichttarifäre Handelshemmnisse. Die EU ist eine hoffnungslos protektionistische Organisation.- Das produzierende Gewerbe hätte also Probleme nach dem Brexit?Es wird vielleicht einige große Unternehmen geben, die trotz des schwächeren Pfunds nicht mehr in Großbritannien produzieren wollen, weil sie ihre Erzeugnisse nicht mehr durch die bürokratische Mauer bekommen, mit der sich die EU umgibt. Andererseits funktionieren in Asien die grenzüberschreitenden Beschaffungsketten ganz ausgezeichnet, obwohl es dort keinen gemeinsamen Markt und keine gemeinsame Währung gibt.- Airbus wird sich kaum anderswo Flügel besorgen wollen.Genau, das würde ihren Geschäftsbetrieb ziemlich durcheinanderbringen. Und vielleicht kommen sie auch zu dem Schluss, dass alles in Ordnung ist, wenn das Pfund 5 bis 10 % tiefer notiert.- Brexit ist in Großbritannien ein großes Thema, aber was wird in Resteuropa geschehen?Die Chancen auf Veränderungen bestehen in Großbritannien, aber nicht so sehr in der EU. Dort wird man am bestehenden System festhalten. Dort wird es weniger Veränderungen gehen. Natürlich wird der Druck auf das Budget stärker und die Zuwanderung wird zu einem größeren Problem.- Wird das Wachstum in der Eurozone nachlassen?Wir haben den Gipfel schon gesehen. Das Wachstum schwächt sich ab. Wir hatten Wachstumsraten von annualisiert 2,5 %. Sie entwickeln sich jetzt Richtung 2 % und werden schließlich unter 2 % liegen. Das ist ein nachhaltig erreichbares Niveau.- Und wohin geht die Reise für Europa?Eines der grundlegenden Probleme ist, dass die Währungsunion zu groß ist. Sie umfasst Länder, die nie hätten aufgenommen werden dürfen. Diese Länder können nicht wettbewerbsfähig werden, weil sie nicht in der Lage sind, die nötigen Anpassungen vorzunehmen. Stattdessen entwickeln sie sich zu Zonen der Stagnation. Das gilt für Griechenland und bis zu einem gewissen Grad auch für Italien. Deshalb spielen extremistische Parteien in diesen Ländern so eine große Rolle.- Wo führt das hin?Früher oder später werden die Menschen gegen eine Währungsunion rebellieren, die zu starr und zu groß geraten ist. Das gilt insbesondere dort, wo es kulturelle, sprachliche oder ethnische Hindernisse für die Mobilität der Arbeitskräfte gibt. Allgemein gesprochen wollen Italiener nicht nach Deutschland, um dort in den Fabriken zu arbeiten. Französische Bauern werden nicht nach Spanien gehen.- Normalerweise sorgt Inflation für mehr Gleichverteilung, aber sie will sich nicht einstellen.Und sie wird auch nicht kommen, solange es außer der EZB keine unabhängigen Zentralbanken gibt.- Könnte die Teuerungsrate in Großbritannien nicht steigen?Nicht wesentlich. In jedem Land gibt es zwei Komponenten der Inflation: importierte Inflation, wie wir sie in Großbritannien nach der Abwertung des Pfunds gesehen haben, und die im Inland entstandene Teuerung durch ein schnelles Wachstum der Geldmenge. Großbritannien hatten beides gleichzeitig: Das Ergebnis des EU-Referendums, das zu einem schwächeren Pfund führte und ab Anfang 2016 eine Beschleunigung des Geldmengen- und Kreditwachstums von um die 4 % auf 8 %. Als das Pfund abwertete, stiegen die Preise – unterstützt von diesem rasanten Geldmengenwachstum.- Wie sieht es heute aus?Mittlerweile hat sich das Pfund etwas erholt. Das Geldmengen- und Kreditwachstum hat nachgelassen. Großbritannien ist wieder zurück bei 4 % statt 7 % oder 8 %. Der Preisauftrieb ist deshalb auf 2,3 %, 2,4 % zurückgegangen. Auch die importierte Inflation hat sich abgeschwächt. Es kann aber weitere Episoden dieser Art geben, während die Verhandlungen mit Brüssel laufen. Das Pfund ist volatil, der Ölpreis ist gestiegen. Aber importierte Inflation ist ein zeitlich begrenztes Phänomen, dem man nicht mit geldpolitischen Maßnahmen begegnen kann.- Werden die Geldpolitiker der Bank of England die Zinsschraube weiter anziehen?Ich wäre nicht überrascht, wenn es im November einen weiteren Zinsschritt von 25 Basispunkten geben würde, und dann vielleicht noch einmal 25 Basispunkte im Mai. Die nächste Gelegenheit wäre zwar Februar, aber das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Mai oder August vielleicht, Zinsschritte werden normalerweise verkündet, wenn der vierteljährliche Inflationsbericht veröffentlicht wird.- Alles nur, um sich mehr Spielraum zu verschaffen?Die Bank of England wäre gerne in einer Position, in der sie den Leitzins senken kann, wenn es nötig wäre. Aber Leitzinsen sind kein guter Ansatz, um die Geldpolitik zu beurteilen. Was wirklich zählt, ist das Geldmengen- und Kreditwachstum. Und das ist derzeit ziemlich gedämpft. Wenn sie den Zins erhöhen können, ohne dabei das Geld zu verknappen, ist das in Ordnung. Das wäre eine Normalisierung wie in den Vereinigten Staaten.- Die Bank of England folgt also dem Vorbild der Fed?Ja, Normalisierung fängt mit Zinserhöhungen an. Dann beginnt man damit, die Bilanz zu schrumpfen.- Und das Pfund?Das Pfund wurde in der Vergangenheit immer zwischen dem Dollar und dem Euro gehandelt. Ich nehme an, dass es nach Ablauf der Verhandlungen wieder dort landen wird.- Wird es zum Handel nach WTO-Regeln kommen?Großbritannien hat vor ungefähr einem Monat seine Zolltarife für den Fall veröffentlicht, dass ab April nach WTO-Regeln gehandelt wird. Sie liegen meist auf dem Niveau der EU-Zölle. Aber ich würde nicht erwarten, dass sie auf diesem Niveau bleiben werden. Es gibt keinen Grund, die Zölle nach dem Verlassen der EU beizubehalten.- Aber das ist nicht, was diese Regierung will.Nein, sie ist durch ihre kleine Mehrheit im Parlament in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt. Zudem fehlt es an Weitblick. Wer für den Freihandel ist, würde gerne viel niedrigere Zölle sehen. Aber in drei, vier oder fünf Jahren werden die Zolltarife anders aussehen als im Vorschlag der Regierung. Inzwischen gibt es auch einen Vorschlag für die Landwirtschaftspolitik. Den Erzeugern wird eine Übergangsfrist von acht Jahren eingeräumt, in denen sie weiterhin vergleichbare Subventionen erhalten sollen. Es wird also weiter Protektionismus bei Agrarprodukten geben. Aber dann werden Dinge wie der Anbau von Zuckerrüben oder die Aufzucht von Lämmern nicht mehr so stark gefördert wie in Europa.—-Das Interview führte Andreas Hippin.