„Die Zeiten des Steuerdumpings liegen endlich hinter uns“
Detlef Fechtner, Lutz Knappmann und Angela Wefers.
Herr Scholz, die Bundesregierung hat bereits umfangreiche Coronahilfen bereitgestellt. Kommt noch mehr?
Solange die Einschränkungen wegen Corona nötig sind, so lange laufen die staatlichen Hilfen – das habe ich zu Beginn der Pandemie angekündigt. Mittlerweile sind wir bereits bei der Überbrückungshilfe III. Wir sind entschlossen, die Finanzhilfen weiterzuführen. Alle können sich darauf verlassen, dass wir die ganze lange Zeit gegen die Krise anhalten.
Sind denn die Hilfen wirkungsvoll?
Sie funktionieren, die wirtschaftliche Entwicklung verläuft besser als zunächst befürchtet. Unsere massive fiskalische Antwort hat zur Stabilisierung der Wirtschaft beigetragen. Der Internationale Währungsfonds hat gerade festgestellt, dass dadurch wahrscheinlich knapp 400000 Unternehmen vor der Insolvenz bewahrt worden sind.
Neue Hilfen bedeuten zugleich neue Schulden. Wie kann es gelingen, diese Schulden wieder abzubauen und der Schuldenbremse zu entsprechen?
Wir haben voriges Jahr 130 Mrd. Euro gebraucht, dieses Jahr sind es nach bisheriger Schätzung 240 Mrd. Euro und nächstes Jahr noch einmal 80 Mrd. Euro. Das wird auf die Dauer natürlich eine Herausforderung für den Bundeshaushalt sein, wenn die Kredite zurückgezahlt werden müssen – addiert ab 2026 etwa 18 Mrd. Euro pro Jahr. Nichts zu tun würde aber viel, viel teurer kommen.
Wie wollen Sie das schaffen?
Wir setzen klar auf Wachstum.
Wie viel zusätzliche Einnahmen muss der Bund erzielen?
Nach unseren Berechnungen werden wir in knapp einem Jahrzehnt, spätestens Anfang der 2030er Jahre, wieder alle Stabilitätskriterien erfüllen; ähnlich lange hat es nach der Finanzkrise gedauert. Die Zeit bis dahin wird herausfordernd. Für die Jahre 2024 und 2025 werden wir zusätzliche Einnahmen von 5 Mrd. Euro beziehungsweise 15 Mrd. Euro benötigen. Das ist zu schaffen.
Diese Planzahlen stammen vom SPD-Kanzlerkandidaten Scholz oder vom Finanzminister Scholz?
Die zusätzlich nötigen Einnahmen für die Jahre 2024 und 2025 können Sie der gemeinsamen Finanzplanung der Bundesregierung entnehmen. Das sage ich als Bundesminister der Finanzen.
Sind für den SPD-Kanzlerkandidaten denn in den nächsten Jahren Steuersenkungen denkbar – oder sind Steuererhöhungen nötig?
Über die weitere Entwicklung sollte sich niemand etwas vormachen. Das ist jetzt nicht die Zeit, in der Steuersenkungen für diejenigen anstehen, die sehr hohe Einkommen haben, oder für Unternehmen, die sehr gut verdienen.
Also müssen Mittelständler die Hoffnung auf steuerliche Erleichterungen begraben?
Klar ist: Wenn man die Entlastung kleiner und mittlerer und auch ganz guter Einkommen will, dann werden diejenigen, die außerordentlich hohe Einkommen haben, einen Beitrag leisten müssen.
Sind Sie erleichtert über die Entwicklung bei der internationalen Digitalsteuer und Mindestbesteuerung?
Im Steuerrecht ist eine große globale Trendwende absehbar. Nach jahrelangen Bemühungen spricht jetzt alles dafür, dass im Sommer dieses Jahres eine weltweite Vereinbarung über die Mindestbesteuerung von Unternehmen und über eine fairere Besteuerung der großen globalen digitalen Plattformen gelingen wird. Das wird auch das Steueraufkommen hierzulande verbessern.
Was würde sich aus einer internationalen Verständigung ergeben?
Die vereinbarte Mindestbesteuerung versetzt jedes Land in die Lage, in seinem nationalen Steuerrecht die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr erfolgreich in Steueroasen verschieben können.
In Deutschland hoffen die Unternehmen schon sehr lange darauf, mit ihrem international relativ hohen Steuerniveau wieder ins Mittelfeld zu rücken. Hoffen sie vergeblich?
Langfristig sind nur diejenigen Gemeinwesen vor exzessiven Steuererhöhungen geschützt, die immer solide haushalten und den Staat nicht allein über Verschuldung finanzieren. Das geht eine Zeit lang gut, dann folgt aber das dicke Ende. Gegenwärtig stecken wir in einer Phase, in der die großen Volkswirtschaften gute Gründe haben, gemeinsam dafür zu sorgen, dass sie ihren Aufgaben finanziell gerecht werden können.
Sie sehen keine Nachteile für deutsche Firmen im globalen Steuerwettbewerb?
Nein. Politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Regierung in Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Großbritannien, den USA oder Japan arbeiten gemeinsam an einer globalen Mindestbesteuerung, das zeugt davon, wie breit die Unterstützung international ist. In Großbritannien plant ein konservativer Schatzkanzler gerade mit Mehreinnahmen von fast 30 Mrd. Pfund pro Jahr. Die neue amerikanische Regierung plant ebenfalls Einnahmesteigerungen. Die Zeiten des Steuerdumpings liegen endlich hinter uns.
Ihre Körperschaftsteuerreform beschränkt sich also auf das Optionsmodell für Personengesellschaften?
Na, das würde ich nicht so abtun. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich diese Wahlmöglichkeit endlich durchgesetzt habe. Davon profitieren viele Unternehmen, die lange dafür geworben haben. Die großen, leistungsfähigen Familienunternehmen können auch als Körperschaft besteuert werden, ohne ihre Rechtsform der Personengesellschaft wechseln zu müssen. Das ist ein echter Fortschritt.
Wenn wir schon bei Steuern sind: Was macht die Besteuerung von Börsengeschäften und anderen Finanztransaktionen?
Eine Besteuerung von Finanztransaktionen ist international üblich. Es gibt solche Steuern an vielen großen Börsenplätzen, beispielsweise in Großbritannien, in Frankreich, Italien oder in Spanien – nur in Deutschland leider noch nicht. Das ist nicht logisch, sondern parteipolitischen Erwägungen von CDU/CSU geschuldet. Wenn auch Deutschland eine Finanztransaktionsteuer einführen würde, wären wohl weit mehr als 90% der Börsentransaktionen in EU-Europa erfasst. Deutschland sollte sich nicht mehr um eine Steuer auf Finanztransaktionen drücken.
Sie plädieren also für die Einführung einer Börsensteuer in Deutschland?
Im SPD-Wahlprogramm steht die Forderung nach einer Transaktionsteuer – und zwar auf meinen Vorschlag hin.
Was ist mit außerbörslichen Transaktionen?
Da ist eine europäische Regelung angebracht. Ich rechne mit einer Belebung der Debatte über eine EU-Finanztransaktionsteuer. Zumal eine solche Steuer zu den eigenen Einnahmequellen zählt, die vorgesehen sind, um den EU-Wiederaufbaufonds zu refinanzieren.
Es gibt noch eine weitere Steuer, die für viel Aufregung im Finanzmarkt sorgt: die Abgeltungsteuer. Es gab Überlegungen, die Kapitalerträge wieder der progressiven Einkommensteuer zu unterwerfen. Wie gehen Sie da weiter vor?
Es ist ein sehr kompliziertes Gesetzgebungsvorhaben im Hinblick auf all die Vorgaben, die im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien vereinbart wurden. Wir stecken noch in der konzeptionellen Arbeit.
Das klingt sehr danach, als ob sie jetzt auch nicht mehr in den letzten wenigen Sitzungswochen in ein Gesetz gegossen werden könnten?
Wie gesagt, die konzeptionellen Arbeit sind noch nicht abgeschlossen.
Das bringt uns zum Thema Finanzplatz: Heute werden Sie im Wirecard-Ausschuss als Zeuge vernommen.
Ich bin ich sehr froh darüber, dass es den Ausschuss des Deutschen Bundestages zu den Fragen gibt, die sich aus der Pleite von Wirecard ergeben. Der Vorstand hat mit hoher krimineller Energie gehandelt und konnte über Jahre Anleger, Finanzaufsicht und Öffentlichkeit täuschen. Der Ausschuss hilft jetzt, den öffentlichen Druck aufrechtzuerhalten, den es für die erforderlichen Reformen braucht. Ich bin überzeugt, wenn das öffentliche Interesse an der Sache erlahmt, wären Lobbyisten sehr versucht, jede Reform und jede Verbesserung zu verhindern.
Sie haben ein Gesetz eingebracht, das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz. Es gibt noch Änderungswünsche Ihres Koalitionspartners, wie wird sich die SPD dazu positionieren?
Wir haben auf die Erkenntnisse, die wir aus diesem Fall gewonnen haben, insbesondere über die Befugnisse der Finanzaufsicht, mit sehr umfassenden gesetzgeberischen Reformen reagiert. Das Gesetzgebungsverfahren läuft längst, jetzt ist der Bundestag am Zuge.
Was sind Ihre Erwartungen?
Wenn man striktere Regelungen vorschlägt, wird das sicherlich die Unterstützung der Sozialdemokratischen Fraktion im Bundestag finden. Und da, wo Lobbyisten versuchen, strenge Regeln zu verhindern, würde ich sehr dafür werben, dass der Bundestag diesen Wünschen nicht folgt.
Was sagen Sie zur Debatte über eine andere Organisation der Finanzaufsicht BaFin?
Ich bin froh, dass wir eine Organisationsuntersuchung der BaFin auf den Weg gebracht haben. Die wollen wir jetzt auch umsetzen.
Wirtschaftswissenschaftler aus Frankfurt und München haben den Vorschlag ins Gespräch gebracht, die BaFin vom Bundesfinanzministerium abzutrennen und unabhängiger zu machen. Was halten Sie davon?
Das Bundesfinanzministerium will eine BaFin, die forsch vorgeht. Alles, was dazu beiträgt, forsches Vorgehen wahrscheinlicher zu machen, findet meine Unterstützung. Alles, was das behindert, findet sie nicht.
Aber was halten Sie von dem Vorschlag, noch einmal institutionell etwas nachzuarbeiten?
Ich finde, wir haben jetzt ja doch sehr weitreichende Formen auf den Weg gebracht. Es wäre gut, wenn die anstehende Reform der BaFin zustande kommt – und nicht immer wieder neue Schleifen am Ende zu einer ganz lauen, unwirksamen Reform führen.
Lassen Sie uns über die Banken sprechen. Im SPD-Wahlprogramm heißt es dazu: „Der Wettbewerb im Finanzsektor soll erhalten bleiben und keine Bank oder kein systemrelevanter Finanzinvestor darf eine Größe erreichen, die den Staat zu ihrer Rettung zwingen kann.“
Diesen Satz finden Sie in ähnlicher Form in Hunderten Erklärungen des IWF und der EU. „Too big to fail“ soll kein Problem mehr für den Kapitalmarkt sein.
Es darf also große wettbewerbsfähige Banken geben?
Selbstverständlich.
Würden Sie denn auch den Weg frei machen, um europäische Bankenfusionen zu ermöglichen?
Ich bin ein Anhänger der europäischen Bankenunion. Ich glaube, dass sie notwendig ist und dass wir dazu einen integrierten Ansatz brauchen. Kapital muss besser dorthin fließen, wo es gebraucht wird – auch über Landesgrenzen hinweg. Wir sind noch zu fragmentiert mit unseren vielen Mitgliedstaaten. Länder ohne Standort einer großen Bank fürchten aus Erfahrung, in krisenhaften Situationen allein gelassen zu werden, weil sich die Institute dann auf das nationale Geschehen konzentrieren.
Was hat das mit europäischen Bankenfusionen zu tun?
Sicherlich würde eine Bankenunion dazu führen, dass die Banken sich selbst neu und europäischer aufstellen. Aber das sind dann marktwirtschaftliche Prozesse, die sich in einem besseren Rahmen entwickeln können. Deshalb ist die Bankenunion wichtig.
Was wäre aus Ihrer Sicht besonders dringlich auf dem Weg zur Bankenunion? Eine EU-Einlagensicherung?
Ich habe vor etwa zwei Jahren mit einem sehr umfassenden Papier versucht, die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Denn tatsächlich haben wir mit der verengten Diskussion über einzelne Aspekte der Bankenunion, etwa die Frage der Einlagensicherung, den notwendigen Durchbruch für die gesamte Reform in Europa erschwert.
Was raten Sie stattdessen?
Wir müssen das Gesamtkonzept der Bankenunion verstehen. Da geht es um Home und Host Countries, was Banken betrifft. Es geht um einheitliche europäische Regeln und die Stärke der europäischen Aufsicht. Eine kleine Bank irgendwo in Europa darf nicht zur Bedrohung für die Kapitalmärkte werden. Es geht zudem um Staatsanleihen in Bankbilanzen und ein gemeinsames Insolvenzregime für Banken. Und am Ende des Tages geht es dann auch um die Verknüpfung der verschiedenen nationalen Einlagerungensicherungssysteme. Wer sich isoliert auf eines dieser Themen konzentriert und den Rest ignoriert, macht einen großen Fehler. Die Bankenunion gelingt nur mit einem Gesamtansatz.
In den vergangenen Wochen gab es gleich mehrere konkrete Problemfälle, die für Turbulenzen an den Märkten gesorgt haben, etwa Greensill oder der Hedgefonds Archegos. Beunruhigt Sie das?
Ja, Fälle wie Greensill treiben mich um. In der Vergangenheit habe ich häufiger für eine starke europäische Bankenaufsicht nach US-Vorbild geworben mit einem Gedankenspiel: Man stelle sich eine kleine Bank in Europa vor, die durch digitale Plattformen mit sehr viel Kapital stark ausgestattet wird und dieses dann auf unsichere Weise vergibt. Fälle wie Greensill sind ein gutes Argument für die Bankenunion.
Die Banken hoffen, dass sie – nicht zuletzt wegen Corona – bei der Umsetzung der neuen Eigenkapitalvorgaben mehr Zeit bekommen. Ist diese Hoffnung berechtigt?
Es wäre falsch, mit den Eigenkapitalanforderungen für Banken nachlässig zu werden. In dieser Krise sind die Bankenaufsichten, national wie europäisch, sehr flexibel mit den Anforderungen umgegangen – ohne sie aufzugeben. Die strengen Eigenkapitalanforderungen sind ja gerade Reaktionen auf frühere Krisen. Und deshalb müssen sie gelten.
Lassen Sie uns noch über Altersvorsorge sprechen. Das Niveau der gesetzlichen Rente ist durch verschiedene Beschlüsse kurzfristig einmal gesichert. Aber gleichwohl zeichnet sich ab, dass das Rentenniveau jetzt auf Sicht so nicht zu halten sein wird.
Wenn man die SPD wählt, wird es ein stabiles Rentenniveau geben.
Die Rechnungen reichen nur bis 2025.
Die Garantie sollte über 2025 hinaus gelten, und da sollte noch etwas hinzukommen.
Könnte noch eine reformierte Riester-Rente dazukommen? Oder eine Deutschland-Rente, die die Chancen von Aktien mit einbezieht?
Ja, in der SPD diskutieren wir für die nächste Legislaturperiode Vorschläge in Richtung eines neuen, standardisierten und digital angebotenen Altersvorsorgeproduktes, das bessere Renditechancen bietet als die aktuelle Riester-Rente. Wichtig ist: Jedes Altersvorsorgeprodukt muss auch ohne Subventionen funktionieren. Natürlich muss man auch über Förderung nachdenken. Ein Produkt, dessen Verwaltungs- und Betriebskosten und Renditen allein aus Steuermitteln stammen, ist aber nicht klug.
Eine hitzig diskutierte Frage lautet, ob ein solches Produkt eine hundertprozentige Absicherung des eingesetzten Kapitals haben muss.
Das ist tatsächlich eine sehr komplizierte Fragestellung. Deshalb ist das auch nichts für Schnellschüsse. Die Frage der vollständigen Garantie der Einsätze stellt sich für Menschen mit einem Einkommen von 2300 Euro brutto sicherlich ganz anders als für jemand, der monatlich 12000 Euro verdient – und der leichter sagen kann, dass im Leben immer ein bisschen Risiko dabei ist. Da braucht es passgenaue Lösungen.
Das Interview führten