Im InterviewStefan Gerlach

„Die Zentralbanken sind vielleicht etwas weniger übereifrig geworden“

Beim EZB-Forum in Sintra beraten aktuell Notenbanker, Wissenschaftler und Marktteilnehmer aus aller Welt über die Geldpolitik weltweit. Dazu ein Interview mit Stefan Gerlach, Chefvolkswirt der EFG Bank und Ex-Vizechef der irischen Zentralbank.

„Die Zentralbanken sind vielleicht etwas weniger übereifrig geworden“

Im Interview: Stefan Gerlach

„Die Zentralbanken sind vielleicht etwas weniger übereifrig geworden“

Der Top-Ökonom und Ex-EZB-Notenbanker über die aktuelle Geldpolitik von EZB, Fed & Co. und die geldpolitischen Lehren für die Zukunft

Profitiert als Beobachter der Notenbanken weltweit auch von seinem Insiderwissen als ehemaliger Zentralbanker: Geldpolitikexperte und EFG-Bank-Chefvolkswirt Stefan Gerlach.

Als Chefvolkswirt der Schweizer EFG Bank beobachtet Stefan Gerlach seit Anfang 2016 die Geldpolitik weltweit. Von 2011 bis 2015 war der 65-Jährige Vizechef der irischen Zentralbank und nahm so auch als Begleitperson an Sitzungen des EZB-Rats teil, der über die Geldpolitik im Euroraum entscheidet. Im Interview ordnet er die aktuelle Lage ein.

Herr Gerlach, im September 2022 haben Sie in einem Interview mit der Börsen-Zeitung davor gewarnt, dass die Notenbanken dem ersten Fehler einen zweiten folgen lassen könnten: Nachdem sie die Inflation lange Zeit unterschätzt und nicht gegengesteuert hatten, könnten sie nun überschießen und die Leitzinsen zu stark anheben. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Geldpolitik seit damals und heute? Die Fed und die EZB haben weiter stark gestrafft und auch gerade weitere Zinserhöhungen signalisiert.

Im vergangenen Herbst haben sowohl die Fed als auch die EZB die Zinssätze teilweise um 75 Basispunkte angehoben. Bei solchen großen Veränderungen besteht die Gefahr, dass man zu viel tut. Beide Notenbanken haben seither das Tempo ihrer Zinserhöhungen verlangsamt und die Zinssätze erst um 50 Basispunkte und dann um 25 Basispunkte angehoben. Während die Kerninflation in den USA nur langsam zurückging, stieg die Kerninflation im Euroraum bis März dieses Jahres weiter an. Die Politik scheint also angemessen gewesen zu sein. Es besteht jedoch nach wie vor die Gefahr einer übermäßigen Straffung, da die Inflation mit einer sehr langen Verzögerung auf Zinsänderungen reagiert. Die Pause der Fed im Juni scheint eine gute Idee zu sein.

Die Inflation ist aber immer noch eindeutig zu hoch, und vor allem erweist sich der zugrunde liegende Preisdruck als sehr hartnäckig. Können die Zentralbanken im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit überhaupt etwas anderes tun, als weiter die Zinsen erhöhen?

Zentralbanken, die ein Inflationsziel haben, etwa in Form einer Definition von Preisstabilität, müssen auf diese hohen Inflationsraten reagieren. Sie müssen dies jedoch vorsichtig tun und das Risiko, zu wenig zu tun, gegen das Risiko, zu viel zu tun, abwägen. Wenn prominente Zentralbanker sagen, dass sie die Prognosen herunterspielen und sich bei der Festlegung der Politik stattdessen auf die aktuelle Inflation konzentrieren, kann man sich nur Sorgen machen. Das ist, als würde man Auto fahren und die ganze Zeit nur in den Rückspiegel schauen, anstatt nach vorne zu schauen.

Was ist Ihrer Einschätzung nach derzeit der größere Inflationstreiber: die deutlich steigenden Löhne – Stichwort: Lohn-Preis-Spirale – oder die spürbare Ausweitung der Gewinnspannen der Unternehmen – Stichwort: „Gier-Inflation“?

Steigende Löhne und steigende Gewinnmargen sind beides Ausdruck einer zu hohen Nachfrage in der Wirtschaft. Das erfordert eine straffere Geldpolitik und/oder Steuerpolitik. Kürzungen der Staatsausgaben und Steuererhöhungen würden die Inflation senken und den Haushaltssaldo verbessern, was nach den großen Haushaltsdefiziten, die durch die aggressive Reaktion der Regierungen auf die Coronakrise verursacht wurden, wünschenswert ist. Dies würde auch die Notwendigkeit für die EZB verringern, die Zinssätze zu erhöhen. Und es wäre direkter wirksam.

Neben der Wirtschaft sind die Folgen von Zinserhöhungen für die Finanzstabilität eine weitere Sorge. Lassen sich der Kampf um Preisstabilität und Finanzstabilität wirklich trennen, wie die Zentralbanker immer behaupten?

Ich befürchte, dass das „Trennungsprinzip“ missverstanden wurde. Es bedeutet nicht, dass die Zentralbank die Zinssätze einfach so festsetzen kann, als gäbe es kein Risiko finanzieller Instabilität – da die Risiken für die Finanzstabilität angeblich auf andere Weise bewältigt werden können. Die Zinssätze haben starke Auswirkungen auf die Finanzmärkte, denn sie sind der Preis für die Hebelwirkung. Viele Marktteilnehmer nehmen Kredite auf, um Finanzanlagen zu kaufen. Ein Anstieg der Kreditkosten im Verhältnis zu den erwarteten Erträgen aus diesen Vermögenswerten kann zu Notverkäufen und Preiseinbrüchen bei Vermögenswerten führen.

IWF-Vizechefin Gita Gopinath hat zum Auftakt des EZB-Forums in Sintra zu einer weniger aktionistischen Geldpolitik aufgerufen, wenn die Inflation nur geringfügig unter den Zielwert fällt, und insbesondere zu mehr Zurückhaltung bei breit angelegten Anleihekäufen – dem „Quantitative Easing“ (QE). Ist ein solches Umdenken der Zentralbanken notwendig?

Die Zentralbanken haben diese Schlussfolgerungen bereits gezogen. Ich vermute, dass viele von ihnen rückblickend negative Zinssätze als etwas bezeichnen würden, „das damals gut aussah“. Und sie sind wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass QE zwar wirksam ist, wenn die Märkte dysfunktional geworden sind, dass es aber unter anderen Umständen weniger wirksam ist. Auch die Schrumpfung der Bilanz scheint in der Praxis viel schwieriger zu sein als in der Theorie, und große Bilanzen in Verbindung mit verzinsten Reserven haben die Rentabilität der Zentralbanken beeinträchtigt, wie der deutsche Rechnungshof festgestellt hat. Insgesamt sind die Zentralbanken in Bezug auf eine unkonventionelle Geldpolitik vielleicht etwas weniger übereifrig geworden.

In letzter Zeit wurden erneut Forderungen laut, die Zentralbanken sollten das weit verbreitete Inflationsziel von 2% auf 3% oder 4% anheben. Wäre das sinnvoll oder würde es die Glaubwürdigkeit völlig untergraben?

Eine Anhebung des Ziels in einer Situation, in der die Inflation zu hoch ist, schadet unweigerlich der Glaubwürdigkeit der Zentralbanken. Wenn die Inflation nahe am Zielwert liegt und eine Zentralbank beschließt, ihren politischen Rahmen zu überprüfen, und zu dem Schluss kommt, dass ein höheres Inflationsziel besser wäre, dann steht es ihr natürlich frei, dieses zu ändern. Doch derzeit würden viele Beobachter daraus schließen, dass das Ziel angehoben wird, weil die Zentralbank es nicht erreichen kann. Ein stillschweigendes Eingeständnis des Scheiterns erhöht selten die Glaubwürdigkeit.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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