„Die Zentralbanken sollten ihr Inflationsziel nicht anheben“
Im Interview: Holger Schmieding
„Die Zentralbanken sollten ihr Inflationsziel nicht anheben“
Der Chefvolkswirt der Berenberg Bank über die jüngsten Entscheidungen von Fed und EZB, den Inflationsausblick und die Zukunft der Geldpolitik
Herr Schmieding, die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre Leitzinsen erneut um 25 Basispunkte angehoben und zugleich recht deutlich signalisiert, dass sie im Juli nochmals die Zinsen erhöhen wird. Wie weit müssen die Leitzinsen noch steigen, um die Inflation von aktuell 6,1% in angemessener Zeit und vor allem nachhaltig auf das Ziel von 2% zurückzuführen?
Der Inflationsdruck geht bereits spürbar zurück. Die Energiepreise sinken, der Druck bei den Nahrungsmittelpreisen lässt nach, und die Einfuhrpreise für viele Güter außerhalb des Energiebereiches sind bei wieder geringeren Transportkosten ebenfalls leicht rückläufig. Da Geldpolitik zeitlich verzögert wirkt und sich die volle Wirkung der bereits um 4 Prozentpunkte angehobenen Leitzinsen erst Ende 2023 und im kommenden Jahr zeigen wird, sollte die EZB bald innehalten und abwarten, wie sich Konjunktur und Inflation weiter entwickeln. Notfalls könnte sie später nachlegen.
Ist es aus Ihrer Sicht derzeit für die EZB die größere Gefahr, bei der Straffung der Geldpolitik zu viel zu tun oder zu wenig zu tun?
Die EZB hat Ende 2021 und Anfang 2022 zu lange gezögert, bevor sie die geldpolitische Wende eingeleitet hat. Jetzt läuft sie Gefahr, dass ihr der Folgefehler unterlaufen könnte. Sie könnte die Konjunktur unnötig destabilisieren, indem sie ihre Leitzinsen zu sehr anhebt. Der scharfe Einbruch des Geldmengen- und Kreditwachstums sollte gerade den monetaristisch geschulten Ratsmitgliedern zu denken geben. Zudem weht dem verarbeitenden Gewerbe angesichts der schwachen Konjunktur in China der Wind ins Gesicht. Auch in den USA geht die Industrieproduktion aktuell zurück. Das belastet den Ausblick für die europäische Ausfuhr. Für die Eurozone zeichnet sich für 2023 und Anfang 2024 nur ein mickriges Wachstum ab, das von sich aus den Preisauftrieb weiter dämpfen wird.
In den USA hat die Fed nun erstmals seit März 2022 eine Zinserhöhungspause eingelegt. Hat sie bereits genug getan, um die Inflation von aktuell 4% wieder unter Kontrolle zu bringen, oder muss sie noch nachlegen, wie ihre eigene, neue Zinsprognose signalisiert – zumal die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel mit mehr als 5% hartnäckig hoch ist?
Anders als die EZB, die es vor allem mit einer importierten Inflation zu tun hat (Stichwort Putin-Schock), muss die US-Notenbank eine hausgemachte Inflation bekämpfen. Das erfordert deutlich höhere Leitzinsen. Vermutlich wird die Fed noch mindestens einmal nachlegen müssen.
Viele Marktteilnehmer spekulieren bereits auf baldige Zinssenkungen in den USA, noch in diesem Jahr. Ist das angesichts der weiter viel zu hohen Inflation vorstellbar – und ratsam?
Ratsam wäre es nicht. Aber möglich ist es schon. Die Fed ist eher bereit als die EZB, auch eine Inflationsrate von knapp 3% hinzunehmen. Gerade für das Wahljahr 2024 möchte sie vermeiden, dass bei einer allzu straffen Geldpolitik die Arbeitslosigkeit spürbar hochschnellen könnte. Da bei langsam rückläufiger Inflation ja die Realzinsen steigen und so die Bremswirkung der Geldpolitik zunimmt, wird sie wahrscheinlich etwa zum Jahreswechsel wieder den Fuß etwas von der geldpolitischen Bremse nehmen wollen.
Die Folgen der Zinserhöhungen für die Banken und die Finanzstabilität nehmen zu. Droht das Ziel der Preisstabilität da unter die Räder zu kommen?
Bisher gibt es dafür kein Anzeichen. Die Finanzturbulenzen im März haben die Notenbanken nicht davon abgehalten, ihre Geldpolitik weiter zu straffen. Sie setzen andere Instrumente ein, um Risiken für die Finanzstabilität einzugrenzen, beispielsweise indem sie dazu beitragen, dass strauchelnde Banken ordnungsgemäß abgewickelt statt chaotisch geschlossen zu werden.
Zuletzt haben die Forderungen wieder zugenommen, die Zentralbanken sollten das verbreitete 2-Prozent-Inflationsziel anheben, auf 3% oder 4%. Wäre das sinnvoll oder würde das die Glaubwürdigkeit vollends untergraben?
Nein, die Zentralbanken sollten ihr Inflationsziel nicht anheben. Das würde einen Präzedenzfall schaffen und könnte die Erwartung wecken, dass sie künftig vielleicht sogar eine noch höhere Inflation zulassen könnten. Das heißt aber nicht, dass die Zentralbanken nicht gelegentlich ein leichtes Unter- oder Überschießen des Zieles, beispielsweise eine Inflationsrate von 1,5% oder 2,5%, hinnehmen sollten. Punktgenau lassen sich in einer unsicheren Welt voller unerwarteter Schocks die 2% nicht immer erreichen.
Die Fragen stellte Mark Schrörs.
Der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding, beobachtet seit vielen Jahren intensiv die Geldpolitik dies- und jenseits des Atlantiks. Im Interview der Börsen-Zeitung äußert sich der 65-jährige Ökonom und Buchautor über die aktuelle Lage von Fed und EZB – ebenso wie zu aktuellen, grundsätzlicheren Themen der Geldpolitik.
Ein ausgewiesener Geldpolitikexperte: Bankökonom Holger Schmieding