„Die Zentralbanken werden gerade auf die Probe gestellt“
Im Interview: Agustín Carstens
„Die Zentralbanken werden auf die Probe gestellt“
Der Chef der Zentralbank der Zentralbanken über die hohe Inflation, weitere Zinserhöhungen und ein nötiges Umdenken bei den politischen Entscheidern
Diese Woche haben die US-Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Zinsen erneut erhöht. Während die Fed nun auf eine Zinspause zusteuert, stellt die EZB weitere Zinserhöhungen in Aussicht. Im Interview spricht Agustín Carstens, Chef der Zentralbank der Zentralbanken BIZ, über die Geldpolitik weltweit.
Herr Carstens, wie schätzen Sie die Lage und die Perspektiven für die Weltwirtschaft ein? Gehören Sie eher zum Lager der Optimisten oder zu denen mit einer pessimistischeren Einschätzung?
Die Weltwirtschaft hat in den vergangenen Jahren einige schwere Schocks zu verdauen gehabt. Aber die Lage ist besser, als es insbesondere nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs oder auch noch vor einigen Monaten zu befürchten gewesen ist. Und das gilt sogar trotz der Bankenturbulenzen im März. Ja, die Weltwirtschaft befindet sich in einer Schwächephase. Aber sie ist widerstandsfähig und es gibt auch einige positive Entwicklungen, wie etwa die Wiederöffnung Chinas nach der Null-Covid-Politik. Es besteht weiter eine gute Chance auf eine sanfte Landung der Weltwirtschaft.
Und was macht Ihnen die größten Sorgen? Ist es eine mögliche Rezession in den USA? Oder in Europa?
Es gibt fraglos einige Sektoren in der Welt und einige Länder, die wegen einer hohen Verschuldung gefährdet sind und die besonders sensibel auf steigende Zinsen reagieren. Auf manchen Immobilienmärkten ist zum Beispiel eine Abkühlung vorstellbar.
Befürchten Sie denn in den USA als weltgrößter Volkswirtschaft eine Rezession, wie sie vermeintlich die invertierte Zinsstrukturkurve signalisiert, oder ist das falscher Alarm?
Die Inversion der Zinskurve kann auch Ausdruck dafür sein, dass die Marktteilnehmer in der Zukunft eine viel niedrigere Inflationsrate als derzeit erwarten. Da gibt es keinen eindeutigen oder mechanistischen Zusammenhang mit einer Rezession. Da sollte man also nicht zu viel hineinlesen. Auch in den USA kann es eine sanfte Landung der Wirtschaft geben.
Sie haben die Bankenturbulenzen im März erwähnt, vor allem in den USA und der Schweiz. Die Finanzmärkte scheinen das Kapitel weitgehend abgehakt zu haben. Aber droht für die Realwirtschaft noch Ungemach durch straffere Finanzierungsbedingungen? Droht gar eine Kreditklemme?
Die Transmission der geldpolitischen Straffung wirkt über straffere Finanzierungskonditionen. Und das ist nötig, um die Investitionen und den Konsum zu dämpfen und so die zu hohe Inflation zu senken. Der Ausbruch finanzieller Instabilität im März sollte nicht heruntergespielt werden. Aber zugleich hat das die Volkswirtschaften nicht aus der Bahn geworfen. Die Entscheidungsträger haben entschlossen reagiert und die Lage unter Kontrolle gebracht. Es hat sich auch gezeigt, dass die Zentralbanken mit getrennten Instrumenten gleichzeitig gegen die Inflation kämpfen und mit Episoden von finanziellem Stress umgehen können.
Was die Inflation betrifft, sind die Gesamtinflationsraten weltweit zuletzt deutlich zurückgegangen. Die Kerninflationsraten ohne Energie und Lebensmittel bleiben aber hoch und ziehen teilweise noch an. Ist die Inflation also hartnäckiger als gedacht – und droht weiter ein neues Regime mit höherer Inflation, wie die BIZ vergangenes Jahr gewarnt hat?
Die sehr hohe Inflation hatte vor allem zwei Gründe: vorübergehende Gründe wie den Anstieg der Rohstoffpreise, die Lieferkettenprobleme und Folgen der Pandemie, und länger anhaltende Gründe, wie insbesondere die aggressive Ankurbelung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch die Fiskal- und Geldpolitik während und nach der Pandemie. Der jüngste Rückgang der Inflation geht vor allem auf das Abebben der vorübergehenden Faktoren zurück. Diese erste Phase des disinflationären Prozesses ging relativ schnell und einfach. Jetzt sind wir mitten in der zweiten Phase dieses Prozesses. Jetzt muss die Geldpolitik die Nachfrage drosseln. Das ist sehr viel schwieriger und dauert länger.
Also ist es für eine Entwarnung zu früh?
Es gibt einige ermutigende Signale, dass die Geldpolitik allmählich wirkt. Wir sind auf Kurs, die Inflationsziele wieder zu erreichen. Aber es braucht Zeit und es gibt eine große Unsicherheit. Positiv ist, dass die Zentralbanken entschlossen gehandelt haben. Das hat dafür gesorgt, dass die Inflationserwartungen weitgehend unter Kontrolle, also im Bereich der 2-Prozent-Inflationsziele geblieben sind. Das ist entscheidend, um die Inflation weiter zu senken.
Bei den Inflationsursachen rücken verstärkt die Preiserhöhungen und hohen Gewinnmargen der Unternehmen in den Fokus – unter dem Begriff „Greedflation“, vom englischen „Greed“ für Gier. Das ist aber umstritten. Wie schätzen Sie das ein?
Grundsätzlich ist es nicht neu, dass bei hoher Inflation Unternehmen versuchen, höhere Kosten abzuwälzen und höhere Preise durchzusetzen, so wie auch Arbeitnehmer versuchen, höhere Lohnabschlüsse durchzusetzen. Und tatsächlich gab es in einigen Sektoren und Ländern teilweise sehr aggressive Preisaufschläge. Das wird aber nicht von Dauer sein. Wenn sich Nachfrage und wirtschaftliche Aktivität abschwächen, wird auch der Spielraum der Unternehmen, ihre Preise zu erhöhen, sinken.
Und für wie groß halten Sie die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale? Nicht zuletzt in Deutschland hat es teilweise sehr kräftige Lohnerhöhungen gegeben, gerade erst im öffentlichen Dienst.
Solange es einen starken Glauben der Marktteilnehmer und der Gesellschaft gibt, dass es den Zentralbanken gelingt, die Inflation wieder zu senken, werden die Inflationserwartungen verankert bleiben. Das reduziert die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. Natürlich kann es Entwicklungen geben, die bei einigen Zweifel an der Entschlossenheit der Zentralbanken schüren – etwa Finanzstabilitätsprobleme. Die Zentralbanken werden jetzt gerade auf die Probe gestellt. Sie müssen um ihre Glaubwürdigkeit als Institutionen kämpfen und ihre Fähigkeit beweisen, die Inflation zu senken. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken ist eine Hauptwaffe im Kampf gegen eine zu hohe Inflation.
Aber haben Reputation und Glaubwürdigkeit der Zentralbanken nicht schon enorm unter der eklatanten Unterschätzung der Inflation in den Jahren 2021 und 2022 gelitten?
Das war nicht unbedingt gut für die Zentralbanken. Aber man muss auch sehen, dass die Inflationsentwicklung ohne die Pandemie und den Ukraine-Krieg ganz anders gewesen wäre. Jetzt haben die Zentralbanken auch die Gelegenheit zu zeigen, warum ihre Unabhängigkeit wichtig ist. Ihre Glaubwürdigkeit wird danach beurteilt werden, wie diese Episode nun bewältigt wird. Die Zentralbanken dürfen jetzt auf keinen Fall zu früh nachlassen und sie müssen die Inflation weiter entschlossen bekämpfen.
Und das heißt konkret?
Im Großen und Ganzen denke ich, dass der größte Teil der Zinserhöhungen bereits erfolgt ist. Sicher könnte es hier und da noch ein paar Erhöhungen geben. Aber wir sind nicht so weit vom Zinsgipfel, der „terminal rate“, entfernt. Entscheidend ist nun, was die Zentralbanken klar kommuniziert haben: Nach dem Erreichen des Zinsgipfels werden sie die Leitzinsen noch eine ganze Weile hoch halten. Diesen Ansatz des „higher for longer“ unterstütze ich. Viele Marktteilnehmer dagegen rechnen mit frühen Zinssenkungen. Das halte ich nicht für realistisch. Es wird länger dauern, die inflationären Kräfte wirklich zu bändigen und sicherzustellen, dass die Inflation niedrig bleibt. Beharrlichkeit ist jetzt für die Zentralbanken wichtig.
Neben den Zinserhöhungen haben die Zentralbanken auch begonnen, ihre durch die Anleihekäufe extrem aufgeblähten Bilanzen zu reduzieren. Sie gehen dabei bislang aber sehr vorsichtig vor. Wie wichtig ist der Bilanzabbau im Kampf gegen die Inflation und braucht es eine schnellere Gangart?
Die Rückführung der Notenbankbilanzen ist ein wichtiger Teil der nötigen Normalisierung und Straffung der Geldpolitik. Es ist richtig, diesen schrittweisen Prozess fortzusetzen und die Bilanzen wieder auf eine vernünftige Größe zu bringen – aber so, dass das keine Turbulenzen auslöst. Bislang ist der Abbau vor allem dadurch geschehen, dass fällig werdende Wertpapiere nicht wieder reinvestiert werden. Das ist grundsätzlich ein sehr gesundes Prinzip: Der Markt sollte neue Schuldpapiere absorbieren, nicht die Zentralbank.
Einige Kritiker sagen, die Zentralbanken würden die Zinsen gar nicht so weit anheben und ihre Bilanzen nicht so deutlich senken können, wie es zur Bekämpfung der Inflation eigentlich nötig wäre, weil dann eine Finanz- und Wirtschaftskrise drohte. Herrscht bereits eine solche Form der „finanziellen Dominanz“?
Ich sehe das überhaupt nicht so. Diese Argumentation geht auch von einer falschen Annahme aus – dass es nämlich Finanzstabilität gibt, wenn die Geldpolitik nicht gestrafft wird. Wenn die Geldpolitik bei hoher Inflation nicht reagiert, gerät die Inflation außer Kontrolle und die Realzinsen steigen rasant an – mit Risiken für das Finanzsystem. Finanzielle Instabilität kann also durch die Untätigkeit der Zentralbank verschärft werden.
Einige Beobachter argumentieren, dass die Realwirtschaft und das Finanzsystem heutzutage gar nicht mehr in der Lage seien, mit höheren Zinsniveaus dauerhaft zurechtzukommen.
Ich kann dieses Argument nicht nachvollziehen. Natürlich gibt es immer Akteure, die unter steigenden Zinsen leiden. Es gibt aber keinen Beweis, dass es eine magische Zahl gibt, über die die Zinsen nicht steigen können. Zwei Dinge sind mir in dem Zusammenhang wichtig: Wenn der Prozess der Inflationsbekämpfung stärker von der Fiskalpolitik unterstützt wird, verringert sich der Bedarf an sehr hohen Zinssätzen. Es wäre daher aktuell eine konservativere Finanzpolitik hilfreich. Und es ist wichtig, das Wachstum langfristig anzukurbeln, vor allem durch Strukturpolitik.
Die Fiskalpolitik ist derzeit also noch zu expansiv?
Der IWF prognostiziert, dass die öffentlichen Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in den nächsten fünf Jahren weiter steigen. Das bedeutet, dass es einen fiskalischen Impuls gibt. Wissen Sie, ich war auch mal Finanzminister. Man kann immer Gründe und Wege finden, Geld auszugeben. Aber was man jetzt tun muss, ist, wirklich Prioritäten zu setzen – für die Infrastruktur, die Bildung, die Digitalisierung, den Klimawandel. Es geht nicht um immer mehr Geld, sondern darum, Geld gut auszugeben. Das wird bei der Inflationsbekämpfung helfen, den Menschen und sogar den öffentlichen Finanzen.
Zuletzt haben sich auch wieder Stimmen gemehrt, einfach die Inflationsziele der Zentralbanken anzuheben – auf 3% oder 4% anstatt 2%.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die 2% erreichbar sind, und ich denke, es wäre ein sehr gefährlicher Präzedenzfall, die Inflationsziele jetzt anzuheben.
In einer Rede haben Sie unlängst dafür plädiert, dass es ein Umdenken der politischen Entscheidungsträger braucht. Sie sollten die Grenzen der kurzfristigen makroökonomischen Stabilisierung durch die Fiskal- und Geldpolitik akzeptieren und den Fokus stärker auf die langfristige Strukturpolitik legen. Für wie realistisch halten Sie denn ein solches Umdenken?
Fiskal- und Geldpolitik können nicht ewig eine Art Quelle des Wachstums der letzten Instanz sein. Beide Bereiche haben klare Grenzen und vor allem können sie nicht nachhaltiges langfristiges Wachstum garantieren. Das nennen wir eine „Wachstumsillusion“. Für dauerhaftes Wachstum kommt es auf andere Bereiche an, vor allem auf die Strukturpolitik. Es geht etwa darum, die teilweise großen Restriktionen beim Zugang zum Arbeitsmarkt zu beseitigen. Deglobalisierung und die Fragmentierung der globalen Wirtschaft und Märkte sind weitere drängende Probleme.
Aber ist ein solches Umdenken politisch realistisch und gesellschaftlich mehrheitsfähig?
Vor allem nach der Weltfinanzkrise gab es die Vorstellung, dass die Fiskal- und die Geldpolitik wann immer nötig expansive Impulse setzen können, ohne dass das Konsequenzen für die Inflation hat. Aber spätestens mit der Pandemie ist diese Welt Geschichte und wird auch nicht wieder zurückkehren. Das müssen wir realisieren und die nötigen Lehren ziehen.
Das Interview führte Mark Schrörs am 27. April.
Das Interview führte Mark Schrörs am 27. April.