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Dramaturgie im Ausschuss passt zu Wirecard

Von Stefan Paravicini, Berlin Börsen-Zeitung, 9.10.2020 Der Finanzskandal rund um den mittlerweile insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard ist nicht nur wegen des schieren Ausmaßes des milliardenschweren Betruges etwas Besonderes. Auch die...

Dramaturgie im Ausschuss passt zu Wirecard

Von Stefan Paravicini, Berlin Der Finanzskandal rund um den mittlerweile insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard ist nicht nur wegen des schieren Ausmaßes des milliardenschweren Betruges etwas Besonderes. Auch die Dramaturgie der Erzählung eines deutschen Fintech-Wunders mit angestellten Schauspielern und einem Bösewicht wie Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek, der nicht nur wegen seiner kriminellen Energie, sondern auch dank seiner Exzentrik keinen Vergleich scheuen muss, sucht in der ohnehin illustren Geschichte der internationalen Bilanzskandale ihresgleichen.Ganz so unterhaltsam ist der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der in den nächsten Monaten die Rolle der Regierung und ihrer Behörden in der Affäre untersuchen soll, nicht gestartet. Die Dramaturgie der konstituierenden Sitzung hatte es dennoch in sich. Denn ganz oben auf der Tagesordnung stand die Wahl des oder der Ausschussvorsitzenden, und weil das Vorschlagsrecht für den dritten Untersuchungsausschuss der laufenden Wahlperiode der drittgrößten Bundestagsfraktion zukommt, war die Alternative für Deutschland (AfD) am Zug, die in den vergangenen Tagen keine Gelegenheit ausgelassen hat, den Ausschussvorsitz für ihren finanzpolitischen Sprecher Kay Gottschalk (54) zu reklamieren.Das Problem? Die AfD hat sich bisher nach Einschätzung der meisten Beobachter im Berliner Regierungsviertel nicht durch allzu emsige Arbeit in parlamentarischen Ausschüssen hervorgetan. Die Mitglieder des Rechtsausschusses des Bundestages haben vor knapp einem Jahr in einem bisher einmaligen Vorgang in der mehr als 70-jährigen Geschichte des Parlaments den AfD-Politiker Stephan Brandner als Ausschussvorsitzenden abgewählt. Und Gottschalk selbst gilt vor allem den Vertretern der anderen Oppositionsparteien im Untersuchungsausschuss unter anderem wegen seiner Sympathien für die stramm rechte Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ), die er als Wegbereiter der AfD sieht und zu der auch der Österreicher Jan Marsalek gute Kontakte pflegen soll, als nicht geeignet für den Ausschussvorsitz.Das Ergebnis? Gottschalk wurde in geheimer Wahl mit fünf Stimmen gegen vier Gegenstimmen zum Vorsitzenden gewählt und dürfte sich dabei auf die Unionsvertreter Hans Michelbach (CSU) – der im Anschluss als stellvertretender Ausschussvorsitzender gewählt wurde -, Fritz Güntzler und Matthias Hauer (beide CDU) gestützt haben. Die fünfte Stimme dürfte von der SPD gekommen sein, wobei Johannes Fechner, der am Donnerstag für Cansel Kiziltepe eingesprungen ist, kaum für den AfD-Politiker gestimmt haben dürfte, der schon einmal einen Boykott von türkischen Geschäften in Deutschland gefordert hat. Zweiter Vertreter der SPD im Untersuchungsausschuss ist Jens Zimmermann. Die Vertreter von Grüne, FDP und Linke, die den Antrag für die Einrichtung des Untersuchungsausschusses im Bundestag eingebracht hatten – Danyal Bayaz, Florian Toncar und Fabio De Masi – hatten sich bereits vor der Sitzung festgelegt, Gottschalk nicht zu wählen. Der konnte sich am Ende dennoch bedanken und nahm die Wahl an, berichtete Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der die konstituierende Sitzung leitete.Die Leitung des Untersuchungsausschusses gehöre nicht in die Hände der großen Koalition, hatte der AfD-Politiker schon vor der Sitzung für sich geworben. Wäre die Wahl des Vorsitzenden gescheitert, hätte der Ausschuss seine Arbeit nämlich unter dem Vorsitz des gewählten Stellvertreters Hans Michelbach (71) aufnehmen können. Der CSU-Politiker hätte im aufziehenden Bundestagswahlkampf wohl die Versäumnisse des Finanzministeriums unter Leitung von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in den Vordergrund gerückt. “Es geht mir weniger um Namen”, sagte Gottschalk gestern. “Es geht mir um die Sache.” BewährungsprobeDanyal Bayaz, finanzpolitischer Sprecher der Grünen, betonte nach der Sitzung, dass Gottschalk mit der Mehrheit der Stimmen demokratisch gewählt wurde. “Er muss sich nun bewähren.” Bayaz fügte hinzu, dass der Vorsitz des Untersuchungsausschusses ein politisches Amt sei, womit er persönlich politische, fachliche und charakterliche Voraussetzungen verbinde. “Der Kandidat der AfD, der in der Vergangenheit zum Boykott von Türken geführter Läden in Deutschland aufgerufen hat, erfüllt diese Voraussetzungen aus meiner Sicht nicht. Daher habe ich ihn nicht gewählt.”