Drin bleiben, wenn auch nur virtuell
Das britische Votum für den EU-Austritt hat viele Absonderlichkeiten hervorgebracht. So bewarben sich in den drei Monaten nach dem Referendum nahezu doppelt so viele Bewohner des Vereinigten Königreichs um einen irischen Pass als ein Jahr zuvor. Mehr als 2 800 Menschen besannen sich auf ihre Vorfahren und beantragten unter Berufung auf ihre Abstammung die irische Staatsbürgerschaft. Im Auftaktquartal 2016 hatten lediglich 235 dieses Bedürfnis. Die Vertreter der Grünen Insel wurden geradezu überrannt und baten verzweifelt, doch bitte erst mal keine weiteren Anträge zu stellen. Die irische Passbehörde holte sich mehr als 100 zusätzliche Mitarbeiter auf Zeit, um den plötzlichen Andrang abzuarbeiten. Es könnte noch reichlich Post eingehen: Mehr als zwei Millionen Menschen aus dem Vereinigten Königreich hätten das Recht, einen irischen Pass oder die Staatsbürgerschaft zu beantragen, heißt es.Die Deutsche Botschaft in London wies auf ihrer Website darauf hin, “dass es derzeit in pass-, namens- und staatsangehörigkeitsrechtlichen Angelegenheiten aufgrund des starken Anstiegs von Anfragen zu diesen Themenbereichen nach dem Referendum am 23.6.2016 zu längeren Wartezeiten kommen kann”. Wer zuvor einen Termin beantragen wollte, musste sich bereits auf zwei bis drei Monate einstellen. Von anderen EU-Vertretungen wird von ähnlichem Andrang berichtet.Die meisten Antragsteller werden vermutlich gar nicht aus Großbritannien wegziehen. Wer trotz Brexit ruhig schlafen will, hat eine viel einfachere Möglichkeit, sich ein Standbein in der EU zu verschaffen: eine virtuelle Präsenz in Estland via “E-Residency”. Der baltische Staat, der die Gründer von Skype und Transferwise hervorgebracht hat, wirbt unter dem Motto “How to Stay In” um britische Neubürger für seinen Cyberspace. “E-Residents” können Dokumente digital signieren und auf diese Weise vergleichsweise unkompliziert ein Unternehmen gründen oder Konten bei estnischen Banken eröffnen und das alles aus der Ferne verwalten. Sie müssen nicht vor Ort sein. Zum EU-Bürger wird man dadurch allerdings nicht. Die “E-Residency” ist keine Staatsbürgerschaft und öffnet auch keine Steuerschlupflöcher. Man hat aber den Vorteil, mit einer der effizientesten öffentlichen Verwaltungen der Welt arbeiten zu dürfen – Wartezeiten von zwei bis drei Monaten sind kein Thema. Der virtuelle Einbürgerungsprozess ist relativ simpel, allerdings mit einem Besuch in der Botschaft verbunden. Das estnische Finanzamt ist mit den Banken vernetzt. Die Steuererklärung ist deshalb in wenigen Minuten erledigt. Auf einbehaltene Gewinne müssen keine Steuern bezahlt werden. Wer nicht den größten Teil seines Geschäfts in Estland macht, führt weiterhin am realen Wohnort/Firmensitz seine Steuern ab. Weil sich die Finanzverwaltung Estlands mit den Steuerbehörden möglichst vieler Länder vernetzen will, könnte schon bald sichergestellt sein, dass die anfallenden Steuern automatisch an die Steuerbehörde Ihrer Majestät überwiesen werden. Nach der Volksabstimmung in Großbritannien hat das Interesse an der “E-Residency” deutlich zugenommen. In der Woche darauf gingen 51 Bewerbungen ein, danach blieb das Interesse hoch. Seit Jahresanfang waren es 418. Seit dem Start des Programms im Dezember 2014 stellten 707 Briten einen Antrag. Alles in allem waren es seitdem mehr als 14 000 Menschen aus 134 Ländern.Warum Estland das macht? Weil sich das Land durch seinen IT-Fokus von den Nachbarn absetzen will. Bei der Unabhängigkeit 1991 hatte gerade einmal die Hälfte der Bevölkerung einen Telefonanschluss. Aber schon kurz nach der Jahrtausendwende gab es ein kostenloses WLAN-Netz, das alle bewohnten Gebiete abdeckt. Die Schulen waren schon früher online. Den virtuell anwesenden Unternehmen lassen sich zudem Dienstleistungen verkaufen. So gibt es etwa “Virtual Office Provider” wie B2Baltics Consulting, die Firmen zu einer estnischen Adresse verhelfen. Weitere Services sind ein virtuelles Sekretariat, Buchführung oder Marktforschung im Baltikum. Schon bald dürfte der Standortwettbewerb um Gründer in erster Linie digital stattfinden. Effizienz und Nutzerfreundlichkeit der öffentlichen Verwaltung werden eine entscheidende Rolle spielen.