DZ Bank-Chefvolkswirt erwartet Post-Corona-Boom
Alexandra Baude.
Herr Holstein, vorläufige Zahlen zeigen, dass die deutsche Wirtschaft vergleichsweise gut durch die Krise kommt. Was erwarten Sie für die kommenden Monate?
Deutschland ist im vergangenen Jahr im Vergleich mit den europäischen Nachbarn tatsächlich relativ gut durch die Krise gekommen. Ein gesamtwirtschaftlicher Rückgang von 5% ist zwar ein tiefer Einschnitt, aber in Frankreich, Italien oder Spanien waren die Verluste noch deutlich höher. Beim Ausblick auf die kommenden Monate wird viel davon abhängen, wie es mit dem Impfen vorangeht. Der Start der Impfkampagne war jedenfalls nicht optimal. Das muss deutlich besser werden, dann können wir ab dem Sommer eine wirtschaftliche Erholung sehen.
Ökonomen debattieren, inwiefern herkömmliche Indikatoren in dieser Krise die konjunkturelle Lage überhaupt abbilden können. Welchem Konjunkturindikator trauen Sie das derzeit am ehesten zu?
Aus meiner Sicht bleiben die gängigen, umfragebasierten Konjunkturindikatoren weiterhin unerlässlich, also etwa das Ifo-Geschäftsklima oder die Umfragen zum Konsumentenvertrauen. Sie liefern uns ein zeitnahes Bild über Lage und Perspektiven bei Unternehmen und Haushalten. Alternative Indikatoren haben sich aber auch als wichtig erwiesen. Google-Mobilitätsdaten, Buchungsdaten für Reisen sowie Hotels und Restaurants, Daten zum Energieverbrauch oder der Lkw-Maut-Fahrleistungsindex von Destatis zeigen, wie stark die Wirtschaft im Lockdown unterhalb des normalen Aktivitätsniveaus agiert.
Die Wachstumshoffnungen der Ökonomen ruhen auf dem privaten Konsum, der von der noch stabilen Lage am Arbeitsmarkt profitiert. Kommt angesichts hoher Ersparnisse im Sommer der Konsumschub?
Im Jahresverlauf 2021 dürfte ein erheblicher Teil der liquiden Mittel, die die Haushalte 2020 als „Überersparnis“ auf ihren Girokonten geparkt haben, wieder in den privaten Konsum fließen. Insbesondere die Ausgaben für Reisen und das Gastgewerbe, für Kultur sowie für persönliche Dienstleistungen werden kräftig ansteigen, wenn die Pandemie es wieder zulässt. Wir rechnen in der zweiten Jahreshälfte 2021 daher mit einem „Post-Corona-Boom“, der auch die deutsche Konjunktur merklich anschieben wird. Zeitweise wird die Sparquote dann auch mal unter ihren längerfristigen Durchschnitt absinken.
Die Industrie war lange das Sorgenkind, nun ist sie wieder Wachstumsstütze, auch dank des stabilisierten Welthandels. Wie ist die starke Exportorientierung langfristig gesehen zu bewerten?
Die Industrie zeigt im Konjunkturzyklus üblicherweise stärkere Schwankungen als die Gesamtwirtschaft. Das heißt, sie bricht in Krisen tendenziell tiefer ein, trägt dann aber auch stärker zur Erholung bei. Die starke Exportorientierung der deutschen Industrie erhöht dabei sicherlich die Anfälligkeit für internationale Krisen. Da sich die Weltwirtschaft aber langfristig expansiver entwickelt als die Binnenwirtschaft, erhöht sich dadurch auch das Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft. Deutschland kommt deshalb ökonomisch schneller aus dieser Krise als viele andere Länder.
Wirtschaftsverbände fürchten zusätzliche Bürokratie und hohe Kosten durch das geplante Lieferkettengesetz. Sind die Vorbehalte gegen weitreichende Sorgfaltspflichten berechtigt?
Das Lieferkettengesetz scheint auf der Annahme zu basieren, dass Unternehmen ihre Augen vor Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung verschließen. Das machen aber bei weitem nicht alle. Es gibt viele Unternehmen, für die Nachhaltigkeit ein zentrales Unternehmensziel ist. Ein Lieferkettengesetz würde durch zusätzliche Bürokratie die Kosten und damit auch die Preise erhöhen. Wie stark, das hängt auch von der Ausgestaltung des Gesetzes ab. Höhere Kosten können Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit haben. Sie würden auch Unternehmen treffen, die sich bereits jetzt ethisch verhalten.
Noch sind die Insolvenzzahlen unterdurchschnittlich, die Sorge vor Zombieunternehmen aber wächst. Steht uns eine Pleitewelle bevor?
Die rückläufigen Insolvenzen sind vor allem auf staatliche Maßnahmen zurückzuführen. Im vergangenen Jahr sanken die Insolvenzen um knapp 20%, obwohl sie in Krisen üblicherweise zunehmen. Ich erwarte, dass es zu einer Insolvenzwelle kommt, wenn das Insolvenzrecht wieder ohne Ausnahmen gelten wird. Wie stark diese ausfällt, ist aber nicht verlässlich zu prognostizieren. Ich glaube nicht, dass wir uns wegen Zombieunternehmen größere Sorgen machen müssen. Die meisten Banken kennen ihre Kunden recht genau und dürften ausreichend Vorsorge für Schieflagen getroffen haben.
Wie besorgt sind Sie mit Blick auf die Banken, denn es steht ja zu befürchten, dass auch die Zahl notleidender Kredite rapide ansteigt?
Wie stark notleidende Kredite ansteigen werden, lässt sich schwer abschätzen. Staatliche Hilfszahlungen, Kredite der Förderbanken sowie die Aussetzung der Insolvenzmeldepflicht helfen Unternehmen, die Krise zu überbrücken. Auch die Einkommen der privaten Haushalte sind stabil geblieben, die Kurzarbeit erwies sich einmal mehr als erfolgreich. Zudem sind Banken besser gerüstet in die Coronakrise gegangen als in frühere Rezessionen, etwa über eine bessere Eigenkapitalausstattung. Nach derzeitigem Stand kann man zuversichtlich sein, dass die Banken in Deutschland die Krise gut meistern werden.
Die Koalition hat eben erst ihr Hilfspaket erweitert: Wie beurteilen Sie die Arbeit der Bundesregierung nach einem Jahr Corona-Pandemie?
Wichtig und positiv war, dass die ersten Hilfspakete schnell und in ausreichender Höhe bereitgestellt wurden. So ist die deutsche Wirtschaft bei allen Problemen relativ glimpflich durch den ersten Lockdown gekommen. Seit dem Sommer ist dann aber politisch einiges versäumt worden. Bis heute gibt es kaum Fortschritte beim Schutz der Alten- und Pflegeheime. Testkapazitäten fehlen immer noch, die Schulen sind nicht gut ausgestattet, um auch unter erschwerten Bedingungen arbeiten zu können. Und leider sind auch bei der Beschaffung der Impfstoffe ganz offensichtlich Fehler gemacht worden.
Was steht auf Ihrem Wunschzettel an die nächste Bundesregierung ganz oben?
In der Finanzpolitik scheint der Blick auf die Belastung der Steuerzahler verloren gegangen zu sein. Wir haben in Deutschland eine der höchsten Abgabenquoten in Europa, das zeigt sich besonders bei der Einkommensteuer. Viele andere Länder haben in den letzten Jahren auch ihre Unternehmenssteuern gesenkt, es geht um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Bei der Digitalisierung ist Deutschland auch eher im hinteren Feld. Das ist aber ein Kernthema der nächsten Jahre. Zudem muss das Rentensystem demografiefest gemacht werden, hier ging die Entwicklung in den letzten Jahren in die falsche Richtung.
Die Coronakrise trifft die Eurozone uneinheitlich. Wie sieht es konjunkturell mit Blick auf die anderen Euro-Länder aus?
Die anderen großen EWU-Länder trifft die Coronakrise tatsächlich härter als Deutschland. Frankreich, Italien und Spanien sind wirtschaftlich noch stärker unter Druck gekommen – auch, weil der Dienstleistungsbereich mit dem Tourismus dort eine wesentlich wichtigere Rolle als im industriestarken Deutschland spielt.
Aktuell sinken die Infektionszahlen und man versucht, einen ähnlich strikten Lockdown wie im letzten Frühjahr zu vermeiden. In Italien ist die Situation durch die Regierungskrise derzeit besonders schwierig.
Die Europäische Zentralbank (EZB) unterstützt in der Krise mit Anleihekäufen gezielt einzelne Länder wie Italien, um ein Auseinanderdriften der Währungsunion zu verhindern. Überzieht die EZB damit?
Von einer Unterstützung einzelner Länder kann man eigentlich nicht sprechen. Die EZB hat eher das große Ganze im Auge und möchte insgesamt für ein niedriges Renditeniveau sorgen. Zum anderen will sie die Volatilität von Renditen und Spreads unter den EWU-Ländern niedrig halten, strebt also insgesamt eine Art Homogenisierung an. Sie hat das Ziel, die Konditionen für die Kreditvergabe EWU-weit sehr expansiv zu halten – auch, um damit Unsicherheiten zu senken. Von „überziehen“ würde ich daher nicht sprechen. Für die EZB zählt das Ergebnis ihrer Maßnahmen und nicht, wie viel sie dafür tun muss.
Die EZB überprüft noch bis zum Sommer ihre Strategie. Erwartet wird eine Umstellung auf ein symmetrisches Inflationsziel von 2%. Werden wir weitere fundamentale Änderungen sehen?
Die EZB hält sich bedeckt. Es ist zu erwarten, dass sie ein symmetrisches Inflationsziel anpeilt. Zum einen, weil die Fed ein solches Ziel formuliert hat und eine grundsätzlich unterschiedliche Geldpolitik in den beiden großen Währungsräumen kontraproduktiv wäre. Damit verschafft sich die EZB auch mehr Beinfreiheit bei der Bekämpfung disinflationärer Tendenzen. Weitere Anpassungen dürften die Inflationsmaße betreffen. Dabei wird nicht nur auf den Harmonisierten Verbraucherpreisindex geschaut, sondern auch auf markt- und umfragebasierte Größen. Auch grüne Anleihen stehen sicher oben auf der Agenda.
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