BREXIT IM SCHWEBEZUSTAND - IM GESPRÄCH: STEPHAN LUTZ, PWC

"Ein Big Bang ist unwahrscheinlich"

Finanzmarktexperte über die Abhängigkeit des Kontinents von London und die Aussichten für einen echten Binnenmarkt für Kapital

"Ein Big Bang ist unwahrscheinlich"

fed Frankfurt – Nach dem Brexit werden nach Einschätzung von Stephan Lutz, Capital Markets and Brexit Leader bei PwC Deutschland, viele Marktteilnehmer Transaktionen zunächst weiterhin nach englischem Recht über den Finanzplatz London steuern. Das werde sich erst sukzessive ändern. Die EU ist aufgerufen, die Bedingungen für einen echten Binnenmarkt für Kapital zu schaffen, damit die Wirtschaft die nötigen Finanzierungsmöglichkeiten auch nach dem Brexit hat.Das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stellt die professionellen Teilnehmer an den Kapitalmärkten vor die schwierige Frage, auf welcher Rechtsbasis sie künftig Vereinbarungen treffen und welchen Finanzplatz sie dafür ansteuern. “Die europäischen Kapitalmärkte sind bislang in hohem Maße von einem Finanzplatz abhängig, nämlich London”, erläutert Lutz. Als Grund dafür, dass London “diese besondere Strahlkraft” habe, verweist er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung zum einen auf Netzwerkeffekte, da sich viele Dienstleister in der City angesiedelt hätten und die Stadt anziehend auf Talente wirke. Zum anderen ist es nach Einschätzung von Lutz für Marktteilnehmer attraktiv, Verträge nach englischem Recht abzuschließen – “vor allem, weil English Law im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtssystemen die Unantastbarkeit von Verträgen zwischen professionellen Parteien auch dann sichert, wenn sich allgemeine Rechtsnormen verändern”, argumentiert Lutz. English Law schwer ersetzbarDer Brexit stellt die bisherige starke Ausrichtung auf den Finanzplatz London in Frage. Wenn das Vereinigte Königreich die EU verlasse und damit künftig nicht mehr der Rechtsprechung durch den EU-Gerichtshof unterliege, verändere sich die Lage, erörtert der Kapitalmarktexperte. Denn wenn Marktteilnehmer in der EU weiterhin wie bisher auf English Law zurückgreifen, hätte die EU in Krisensituationen keine Durchgriffsrechte und würde sich von einem Offshore-Zentrum abhängig machen.Die richtige Antwort auf diese Herausforderung zu finden, sei alles andere als trivial. “Kein kontinentaleuropäisches Rechtssystem kann English Law derzeit einfach ersetzen”, ist Lutz überzeugt. Denn es mangele nicht nur “an der besonderen Betonung der Vertragsfreiheit, sondern auch an Verständlichkeit und an eingeübter Praxis in der Rechtsprechung”. Deshalb sei zu erwarten, dass auf Sicht von ein oder zwei Jahren viele Marktteilnehmer zunächst einmal dabei bleiben, Verträge weiterhin nach englischem Recht zu vereinbaren. “Ein Big Bang ist unwahrscheinlich”, lautet die Prognose von Lutz. Vielmehr spreche einiges dafür, dass sich die Vertragspraxis in einem schleichenden Prozess umstellt, in dem Parteien am Kapitalmarkt sukzessive z. B. deutsche Derivate-Rahmenverträge statt ISDA-Master-Agreements nach englischem Recht nutzen werden. Politischer Wille erforderlichLutz ist gleichzeitig zuversichtlich, dass sich in der EU der künftig nur noch 27 Mitgliedstaaten ein integrierter, großer Kapitalmarkt unter verlässlichen und für Investoren vorhersehbaren Bedingungen ausbilden kann, der das nötige Kapital anzieht, das die heimische Wirtschaft zur Finanzierung braucht. Er weist auf die umfassenden Bemühungen der EU-Kommission hin, den EU-Kapitalmarkt attraktiver zu machen, hält die Wirkung dieser regulatorischen Vorstöße – zum Beispiel für einfachere Prospekte, transparentere Verbriefungen oder harmonisierte nationale Insolvenzregeln – aber für begrenzt: “Die von der EU angeschobene Kapitalmarktunion kann die notwendige Bedingung dafür liefern, dass ein echter Binnenmarkt für Kapital entsteht, so wie wir ihn bereits für Waren kennen”, urteilt Lutz.Aber damit dies wirklich gelinge, müsse auch die hinreichende Bedingung erfüllt sein: “Die nationalen Regierungen müssen den politischen Willen zeigen, dass ein von Hindernissen befreiter grenzüberschreitender Kapitalverkehr in der EU auch tatsächlich gewollt und gefördert wird – und zwar verlässlich.” Deshalb laute sein Wunsch an die Politik, deutlich zu machen, “dass die Regierungen eine gemeinsame Vorstellung davon haben, was Kapitalmärkte leisten sollen – und dass sie das ,Ökosystem` unterstützen”.