LEITARTIKEL

Ein Land - ein Unding

Wenn in einem Land das Überfahren einer roten Ampel oder überhöhte Geschwindigkeit mit bis zu lebenslanger Haft geahndet werden sollte, kann man sich sicher sein, dass es dort im Straßenverkehr äußerst ruhig und gesittet zugehen würde. Nur gibt es...

Ein Land - ein Unding

Wenn in einem Land das Überfahren einer roten Ampel oder überhöhte Geschwindigkeit mit bis zu lebenslanger Haft geahndet werden sollte, kann man sich sicher sein, dass es dort im Straßenverkehr äußerst ruhig und gesittet zugehen würde. Nur gibt es ein Problem mit der Verhältnismäßigkeit. China bestraft seit jeher jedwede Form von Widerstand oder auch nur Kritik an Partei und Regierung mit drakonischen Maßnahmen – und siehe da: Es gibt praktisch keinerlei Proteste gegen die Staatsgewalt. Denn wer sich auflehnt, wird gnadenlos aus dem Verkehr gezogen.Das für westliche Demokratien geltende Prinzip der “Rule of Law” und einer Trennung der Gewalten in Exekutive, Legislative und Judikative ergibt im chinesischen System keinen Sinn, da die Interessen der Parteiführung unfehlbar sind und auch das Rechtssystem ihnen damit zwangsläufig völlig untergeordnet sein muss. In der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong ist das anders oder war es zumindest bis zum verhängnisvollen 1. Juli, an dem China ein neues Sicherheitsgesetz erwirkt hat. Die seit jeher für ihre Unabhängigkeit gerühmte Hongkonger Jurisdiktion, der auf britischen Grundsätzen beruhende Grundsatz der “Rule of Law” und die Hongkonger Legislative werden nun in entscheidenden Fragen der Bedeutungslosigkeit anheimgestellt und die Freiheitsrechte der Hongkonger Bürger auf festlandchinesisches Niveau zusammengestutzt.Mit dem neuen Sicherheitsgesetz antwortet Peking auf die vor einem Jahr losgetretenen Unruhen und zum Teil gewalttätigen Proteste in der Sonderverwaltungszone. Sie hatten sich ursprünglich nur gegen einen Gesetzesvorschlag der Hongkonger Regierung gerichtet, Auslieferungsverfahren für Hongkonger Straftäter an chinesische Gerichtsbarkeiten auf dem Festland zuzulassen. Diese breite Empörungswelle fußte auf den starken Instinkten der Hongkonger Bevölkerung zur Bewahrung ihres Rechtssystems und den in der Hongkonger Verfassung zugesicherten Rechten zu Meinungsfreiheit und Demonstrationen. Jetzt hat man aus chinesischer Sicht das Übel an der Wurzel gepackt und ein umfassendes Maßnahmenpaket geschnürt. Mit diesem lässt sich am lästigen Hongkonger Rechtssystem und seinen Prinzipien vorbei nach Lust und Laune schalten und walten, und zwar unter direkter Einschaltung des extrem gut geölten Sicherheitsapparats des Festlands, der nun auch in Hongkong zum Einsatz kommen wird.Peking hat alle legislativen Register gezogen, um das völlig eigenständig entwickelte Sicherheitsgesetz in die Hongkonger Verfassung einzupflanzen, und betont nun treuherzig, dass damit keinerlei Verstoß gegen den Hongkong vertraglich zugesicherten Autonomiestatus und das berühmte Prinzip “Ein Land – zwei Systeme” vorliege. Das ist ein Unding. Das Gesetz führt nämlich zur Schaffung paralleler Institutionen in der Legislative und Exekutive Hongkongs, die sich künftig sicherheitsrelevanter Aspekte annehmen. Dazu muss man wissen, dass nun künftig vier äußerst vage umrissene Straftatbestände der Subversion, des Terrorismus, der Sezession und der Einmischung ausländischer Kräfte im äußersten Fall lebenslange Haft nach sich ziehen können.Wer künftig ein Banner mit einer Aufforderung zu mehr Demokratie trägt oder die chinesische Nationalhymne verunglimpft, macht sich strafbar. Die Hongkonger Regierung ist Experten zufolge zudem verpflichtet, Bildungsstätten, Zivilgesellschaft, Medien und die Online-Welt stärker zu kontrollieren, und erhält damit eine regelrechte Steilvorlage, um auf Grundlage des Hongkonger Grundgesetzes die Bürgerrechte nach Pekinger Gutdünken einzuschränken.——Von Norbert HellmannChina will mit einem drakonischen Sicherheitsgesetz in Hongkong Ruhe schaffen. Das stellt das Prinzip “Ein Land – zwei Systeme” auf den Kopf.——