Ein Mann der freien Fehde
Konfliktscheu ist EU-Kommissar Günther Oettinger gewiss nicht. Und politisch korrekt erst recht nicht. Wenn der EU-Kommissar zu Wort kommt, erweist er seinem Dossier oft alle Ehre. Der Energiekommissar sorgt für mächtig Spannung. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, teilt munter aus, schreckt vor keinem Clinch zurück: ein Mann der freien Fehde. Während über einen ehemaligen Präsidenten des EU-Parlaments einst gespottet wurde, er könne einen ganzen Saal binnen einer halben Stunde ins Wachkoma reden, ist Oettinger kurzweilig und ziemlich geradeheraus. Da wird meist nicht mit dem Florett gefochten, sondern mit dem Schwert. Und zwar beidhändig.So wie jüngst vor der Handelskammer. Da erklärte Oettinger Europa zum “Sanierungsfall” und gleichzeitig zur “Erziehungsanstalt”. Die “wahre schlechte Lage” sei noch immer nicht genügend erkannt. Vor allem in Frankreich seien die wirtschaftlichen Bedingungen trist. Und Italien, Bulgarien und Rumänien seien “im Grunde kaum regierbar”. Die bulgarischen Kollegen im Presseraum waren tags drauf ganz außer sich und baten EU-Kommissionschef José Manuel Barroso umgehend um öffentliche Ehrenrettung ihres Landes. Nachdem die “Bild-Zeitung” für Verbreitung der – mindestens leichtfertigen – Einlassungen des EU-Kommissars gesorgt hatte, nahm in Brüssel und Berlin die übliche Reizreaktionskette ihren Lauf. Sozialdemokraten und Grüne spotteten über den Auftritt. “Da ist Oettinger wohl der schwäbische Gaul durchgegangen”, machte sich EU-Parlamentspräsident Martin Schulz lustig. Christdemokraten und Liberale wiederum versammelten sich hinter Oettinger, von “Klartext” und “Weckruf” war die Rede. Währenddessen bemühte sich der Sprecherdienst der EU-Kommission zu retten, was zu retten war. In wesentlich diplomatischeren Worten wurde da wiederholt, was eigentlich gesagt werden sollte. “Herausforderungen” statt Sanierungsfall, “mangelnde politische Rückendeckung” statt Unregierbarkeit.Der Erfolg der Glättungsbemühungen war überschaubar.Oettinger ist freilich längst nicht der erste EU-Kommissar, der munter drauf los schwatzt. Sein Vorgänger als EU-Kommissar aus Deutschland, Günter Verheugen, redete sich einst um Kopf und Kragen, als er bei einem Essen in der deutschen Botschaft über seinen eigenen Stab lästerte. Man könne überspitzt sagen, die EU-Beamten verbrächten einen Großteil ihrer Zeit damit, Probleme zu lösen, die es nicht gäbe, wenn es sie nicht gäbe.Regelmäßig durch markige Sprüche aufzufallen weiß auch die luxemburgische EU-Kommissarin Viviane Reding. Sie verscherzte es sich restlos mit der früheren französischen Regierung, als sie in Bezugnahme auf deren Politik gegenüber den Roma sagte, sie habe gedacht, Europa müsse so etwas nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder mit ansehen. Das sei eine Schande. Nicolas Sarkozy ist dem Vernehmen nach die Decke hochgegangen.Bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, ist schließlich der belgische EU-Kommissar Karel De Gucht. Vergangenes Jahr brachte er die Griechen gegen sich auf, als er über Notfallpläne für Hellas und ein “Endspiel” in dem krisengeplagten Land bramarbasierte. Skandalträchtig werden die pikanten Bemerkungen dann, wenn es konkret um ein anderes Land geht. Um Bulgarien wie bei Oettinger. Um Frankreich wie bei Reding. Oder um Griechenland wie bei De Gucht. Denn über andere Länder zu reden, gilt in Brüssel als pfui. Da wird allenfalls ein geografischer Hinweis gegeben: “Ein Regierungschef aus einem Land mit viel Wasser drum herum” – wahlweise für Malta oder Zypern, meist jedoch für das Vereinigte Königreich. Staaten, die fast pleite sind, werden natürlich erst recht nicht erwähnt – und in anonymer Aufzählung als “Länder unter besonderer Aufmerksamkeit der Märkte” schöngeredet. Und selbst wenn Diplomaten über ihre Heimat sprechen, nennen sie sie nur ungern beim Namen. Üblich ist vielmehr die Umschreibung als “Land, das ich am besten kenne”.