Europawahl 2024Reformen und Erweiterung

Weichenstellung für eine EU der 36

Der Krieg gegen die Ukraine hat in der EU zu einer neuen Erweiterungsdynamik geführt. Aber eine schnellere Integration der Ukraine und Westbalkan-Länder ist ohne Reformen der EU kaum möglich ist.

Weichenstellung für eine EU der 36

Serie: Countdown zur Europawahl (Teil 7)

Ein neues Kapitel in der Brüsseler Erweiterungspolitik

EU-Institutionen vor Weichenstellungen zu einer Union von bis zu 36 Staaten – Macht- und Geldverschiebungen könnten internen Reformbedarf ausbremsen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in der EU zu einer neuen Dynamik in der Erweiterungspolitik geführt. Insbesondere die Ukraine und die Westbalkan-Länder sollen schnell integriert werden, was aber ohne innere Reformen der EU kaum möglich ist. Der Ausgang der Europawahl könnte den Prozess wieder bremsen.

Zuletzt erschienen: Von Katar über Russland bis China (28.5.) Rätselraten über Europas Rechtsaußen (25.5.) Der EU-Währungsausschuss hat seinen Nimbus verloren (22.5.)

Mehr als eine Dekade ist die bislang letzte Neuaufnahme in die Europäische Union (EU) mittlerweile her. Schon 20 Jahre sind seit der großen Osterweiterung vergangen. Die Integration der Westbalkan-Staaten stockt schon lange. Die Verhandlungen mit der Türkei liegen ohnehin auf Eis. Spätestens seit Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat, gibt es in Brüssel aber ein Umdenken. Immer stärker wird die Erweiterungspolitik in den EU-Institutionen auch als geopolitisches Instrument verstanden. Es geht mittlerweile auch um eine „Expansion in strategisch wichtige Räume“, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kürzlich analysierte.

Mittlerweile gibt es neun Beitrittskandidaten. Mit Kosovo, das diesen offiziellen Status noch nicht erhalten hat, wären es sogar zehn Länder. Das EU-Parlament hatte bereits vor eineinhalb Jahren gefordert, die Zugangsbedingungen und -prozesse in die Union zu reformieren und alle Beitrittsverhandlungen bis 2030 abzuschließen. Ob es bei dieser Haltung bleibt, dürfte ganz entscheidend auch vom Ausgang der Europawahl im Juni abhängen. Ähnliches gilt für das Engagement der EU-Kommission in dieser Angelegenheit.

Scholz will geopolitische EU

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte 2022 in seiner Europarede an der Karls-Universität in Prag schon von einer erweiterten Europäischen Union mit 30 oder sogar 36 Mitgliedstaaten gesprochen. Die Erweiterung der EU sei notwendig, um die Stabilität Europas zu sichern und die gemeinsamen Werte zu schützen, argumentierte er. Scholz unterstützt die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorangetriebene stärkere geopolitische Ausrichtung der Europäischen Union. Dabei ist klar, dass es auch an der EU selbst ist, vor einer Aufnahme von weiteren Mitgliedstaaten erst einmal Reformen umzusetzen. Es geht insbesondere um die Entscheidungsstrukturen und die Regeln der Einstimmigkeit, zum Beispiel in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

In Prag warnte der Kanzler, dass mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko steige, „dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert“. In den vergangenen Jahren haben ja bereits kleinere Länder wie Ungarn das Vetorecht ausgiebig genutzt. Ob sie jetzt gewillt sind, dieses Erpressungs- und Machtpotenzial so ohne weiteres aufzugeben?

Eine Erweiterung hätte auf jeden Fall viele institutionelle Folgen auf allen Ebenen der EU, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer im März veröffentlichten Studie gezeigt hat. Im Europaparlament würden den Neumitgliedern aus Osteuropa und dem Westbalkan (ohne Türkei) ein Sechstel der Sitze zustehen. Deutschland würde demnach etwa fünf Sitze verlieren. Die Ukraine wäre als neues Schwergewicht die fünftgrößte nationale Delegation im Parlament.

Der liberale Block verliert

Das IW verweist zudem auf Machtverschiebungen innerhalb des Rates der EU-Länder, in dem meist mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Durch eine Erweiterung könnte sich die wirtschaftliche Ausrichtung des Rates hin zu weniger wirtschaftlicher Freiheit verschieben, so die Kölner Ökonomen. „Dadurch würde es dem eher liberalen Block, zu dem auch Deutschland gehört, schwerer fallen, per Sperrminorität Entscheidungen zu verhindern oder per Mehrheitsbeschluss Entscheidungen durchzusetzen.“

Hinzu kommen die finanziellen Belastungen für die derzeitigen Mitgliedstaaten: Denn keiner der Beitrittskandidaten erreicht aktuell auch nur die Hälfte des durchschnittlichen heutigen EU-Bruttoinlandsprodukts pro Kopf. Alle wären für viele Jahre Nettoempfänger aus dem EU-Haushalt, der sowohl auf der Einnahme- als auch der Ausgabeseite neu aufgestellt werden müsste. Nach Einschätzung von Hertie School/Jacques Delors Centre sind die Auswirkungen einer Erweiterung auf den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU allerdings längst nicht so groß wie allgemein immer erwartet. In einer Studie verweist die Denkfabrik auf die inhärenten Anpassungsmechanismen, die es bereits im MFR gibt, um erhebliche Schwankungen bei den Auszahlungen an die einzelnen Mitgliedstaaten abzufedern, einschließlich Höchstgrenzen für nationale Zuweisungen.

Deutsche sind skeptisch

Laut Hertie School würde keines der heutigen EU-Mitglieder vom Nettoempfänger zum Nettozahler werden, wenn die Ukraine, Moldau, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Albanien und Serbien beitreten würden. Dies würde demnach jährliche Mehrausgaben von insgesamt etwa 19 Mrd. Euro bedeuten, was aber kaum mehr als 10% des derzeitigen EU-Haushalts entspricht.

In der Bevölkerung – insbesondere in Westeuropa – überwiegt dennoch die Skepsis. Der Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) hat anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der großen Osterweiterung kürzlich ein Stimmungsbild in einigen Ländern eingeholt. In Deutschland waren demnach trotz der geopolitischen Krisen lediglich 28% der Befragten für eine rasche nächste Erweiterungsrunde der EU. 50% waren dagegen. Die Ukraine erhielt mit 37% dabei noch die stärksten Zustimmungswerte. In Ländern wie Frankreich oder Österreich sah das Bild ähnlich aus.

Werden die strikten Beitrittskriterien zur EU aufgeweicht?

Das Unbehagen könnte auch von Sorge vor einem möglichen Aufweichen der strikten Beitrittsbedingungen („Kopenhagener Kriterien“) herrühren. Die Stiftung Wissenschaft und Politik verwies in dem Zusammenhang bereits auf Vorwürfe, die EU würde autokratische Regierungen über Gebühr aufwerten und dadurch an Glaubwürdigkeit verlieren: „Geopolitische Erwägungen drohen Defizite bei der Regierungsführung auszustechen oder in den Hintergrund zu drängen.“ Zuletzt haben alle EU-Institutionen Tempo für eine nächste Erweiterungsrunde gemacht. Ob es bei der Geschwindigkeit bleibt oder doch andere Optionen einer schrittweisen Heranführung der Beitrittskandidaten gewählt werden, hängt auch von der EU-Wahl ab.

Von Andreas Heitker, Berlin
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