DISKUSSION UM DIE SCHULDENBREMSE - GASTBEITRAG

Ein ökonomisch unsinniges Korsett

Börsen-Zeitung, 21.9.2019 Hinter der Idee der Schuldenbremse, neben der schwarzen Null die zweite heilige Kuh der deutschen Finanzpolitik, steht die aus ökonomischer Sicht völlig verkehrte Vorstellung, Schulden wären per se schlecht und müssten...

Ein ökonomisch unsinniges Korsett

Hinter der Idee der Schuldenbremse, neben der schwarzen Null die zweite heilige Kuh der deutschen Finanzpolitik, steht die aus ökonomischer Sicht völlig verkehrte Vorstellung, Schulden wären per se schlecht und müssten verschwinden oder zumindest auf ein Minimum reduziert werden. Aber Schulden sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes – alles hängt davon ab, für was sie gemacht werden.Zugegeben, die Schuldenbremse ist in einer Zeit entstanden, in der die Schulden in Deutschland ausgeufert sind – und zu viele Schulden, die perspektivisch nicht bedient werden können, sind keine gute Sache. Aber es gibt auch so etwas wie zu wenig Schulden.Wer keine Schulden machen darf, in diesem Fall der Bund, die Länder und vor allen Dingen die im Korsett der Schuldenbremse eingezwängten deutschen Kommunen, muss bei den Ausgaben sparen – hier bei den Investitionen. Diese Investitionen hat das Land aber bitter nötig. Allein die Kommunen haben einen Investitionsrückstand von kumuliert 160 Mrd. Euro – es geht um eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur, gut ausgestattete Schulen, um schnelles Internet und um ausreichend Kitaplätze – um alles, was das Leben vor Ort ausmacht. Klamme KommunenDie Idee, dass Bürgermeister (und die wenigen Bürgermeisterinnen, die wir haben), wenn sie Kredite aufnehmen dürfen, nur überdimensionierte Spaßbäder bauen, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, zeugt von einem tiefen und unberechtigten Misstrauen gegenüber der Politik. Und sie verkennt die Realität: Die finanziell notleidenden Kommunen sind die, die die höchsten Ausgaben haben. Zum Beispiel viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen, die hohe Sozialausgaben schultern müssen. Wie sollen sie denn noch investieren, wenn ihnen die Kreditaufnahme verwehrt bleibt? Und wie sollen sie dann als Standort für Unternehmen noch attraktiv sein (und somit Einnahmen generieren), wenn sie nicht investieren können?Die Schuldenbremse verfestigt eine Polarisierung der deutschen Regionen, die auch politisch folgenreich ist. Der Mangel an Investitionen ist zudem eine Hypothek auf Deutschlands Zukunft, denn er gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und letztlich die Prosperität Deutschlands. Mit dem Verweis auf künftige Generationen für schwarze Null und Schuldenbremse zu werben ist also nicht ohne eine gewisse Ironie. Denn der Investitionsrückstand, der sich daraus ergibt, wird erst recht unseren Kindern und Enkelkindern teuer zu stehen kommen. In diesem Sinne werden gerade auf kommunaler Ebene aktuell zu wenig Schulden gemacht.Staatsschulden erfüllen aber auch andere Funktionen als nur Finanzmittel für den Kreditnehmer. Es sind nämlich die einzigen Anleihen, die als risikolos eingestuft werden. Dadurch können Staatsanleihen zum einen als Sicherheit von Geschäftsbanken bei der Zentralbank hinterlegt werden – sie ermöglichen somit die Abwicklung der Geldpolitik. Zum anderen können sie von allen Haushalten in der Ökonomie als sicheres Anlageobjekt gekauft werden. Haushalte benötigen ein sicheres Anlageobjekt, um sich gegen unvorhergesehene Ereignisse abzusichern.Es ist deswegen in keinem ökonomischen Modell so, dass das optimale Niveau der Staatsschulden gering ist. Wissenschaftliche Arbeiten haben Ende der neunziger Jahre gezeigt, dass das optimale Verschuldungsniveau im Gegenteil bei etwa zwei Drittel des Bruttoinlandsproduktes liegt. Die derzeitige Schuldenbremse würde zu einem langfristigen Abbau des Schuldenstands auf circa 12 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt führen – und das ist ohne jeden Zweifel viel zu wenig.Gibt es nicht genug sichere Staatsanleihen, so müssen die Haushalte, die Vorsorge betreiben wollen (und müssen), andere Produkte kaufen, die mit höherem Risiko verbunden sind. Das führt zu Vermögenspreisblasen. Interessanterweise kaufen sich Haushalte bewusst in Preisblasen ein – sie haben zum einen keine Alternative und sie hoffen zum anderen, ihre Anlage noch rechtzeitig verkaufen zu können. Die tugendhafte Schuldenbremse wird so, indem sie zu einem zu niedrigen Schuldenstand führt, zu einem Instrument der Preisblasenbildung. Alles andere also als eine ökonomisch optimale Regel.Es gäbe durchaus einen Weg, die Ausgaben der öffentlichen Hand zu deckeln ohne die Nachteile einer Schuldenbremse. Eine Gruppe von 14 deutschen und französischen Ökonomen und Ökonominnen hat für alle Länder des Euroraums eine nominale Ausgaberegel vorgeschlagen. Diese besagt, dass die Ausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potenzialwachstumsrate der eigenen Volkswirtschaft steigen dürfen. Im Falle Deutschlands würde das eine Steigerung von bis zu 3 % pro Jahr bedeuten. Deutlich antizyklischerDer große Vorteil einer solchen Regel ist, dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln: In guten Zeiten schränkt sie die Ausgaben ein, weil sich diese am Potenzialwachstum orientieren müssen und nicht an den aktuell höheren Raten; und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum, weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringerung der Ausgaben führen muss. Gleichzeitig verstetigt sich die Finanzierung der Kommunen, was unter dem Strich die notwendigen Freiräume für eine kontinuierliche Investitionstätigkeit schafft.Diese Reform würde den Kommunen ermöglichen (oder zumindest dazu beitragen), wieder ihrer Verantwortung für eine ausreichende Daseinsvorsorge nachzukommen. Auf diese Weise könnten auch strukturschwache Regionen an Attraktivität für Haushalte und Unternehmen gewinnen. Die Negativspirale aus Verschuldung, fehlenden Investitionen und niedriger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, in der viele Kommunen auch wegen der Schuldenbremse gefangen sind, könnte durchbrochen werden. Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin, Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin