NOTIERT IN LONDON

Ein sehr gehorsamer Vater

Es ist eine merkwürdige Schlange, die sich vor der Cadogan Hall in Chelsea gebildet hat. Sie reicht bis um die Ecke in die Sloane Street. Vor allem ältere Herrschaften im Sonntagsstaat stehen hier an, Leute in offenkundig teuren, aber so gar nicht...

Ein sehr gehorsamer Vater

Es ist eine merkwürdige Schlange, die sich vor der Cadogan Hall in Chelsea gebildet hat. Sie reicht bis um die Ecke in die Sloane Street. Vor allem ältere Herrschaften im Sonntagsstaat stehen hier an, Leute in offenkundig teuren, aber so gar nicht aufeinander abgestimmten Kleidungsstücken – nicht für ein Konzert des Royal Philharmonic Orchestra, das in der ehemaligen Kirche einer christlichen Sekte sein Zuhause hat. Sie warten geduldig auf Einlass, um Jacob Rees-Mogg zu hören, der sich auf der Bühne mit einem ihm wohlgesonnenen Journalisten zum Thema Brexit und anderen Fragen austauschen wird. Wer tut sich so etwas an? Der Kameramann auf der anderen Straßenseite ist sich sicher: “Telegraph”-Leser. Die Tageszeitung, die nicht umsonst als “Torygraph” verschrien ist, hat die Veranstaltung organisiert. Zwei Frauen, die mit großen britischen Flaggen vorbeispazieren, werden von zwei Pensionären mit “Well done, girls!” begrüßt, gehen aber weiter. Es ist schließlich nicht die “Last Night of the Proms”, bei der Verkleidungen und Fähnchen angesagt sind.Im Foyer wird es eng, weil die Türen zum Saal erst spät geöffnet werden. “Chaotisch wie der Brexit”, witzelt einer der Senioren in der Mitte der Schlange. “Wir haben drei Jahre gebraucht, um bis hierhin zu kommen.” Die mehr als 900 Plätze sind den Mitarbeitern des Konzerthauses zufolge ausverkauft. Ein paar freie Plätze gibt es aber doch, vor allem auf der Galerie, wie sich später zeigt. Vermutlich waren den meist älteren Teilnehmern die mehr als 60 Stufen zu viel. “Ich bin ein großer Bewunderer”, sagt Chris Evans, der Chefredakteur des Blatts über den schlaksigen Brillenträger in den irgendwie zu groß wirkenden Anzügen. Rees-Mogg sei “ein Mann mit Stil und Substanz”.Der Muster-Tory mit dem anachronistischen Habitus ist alles andere als eine ultrakonservative Witzfigur. Das zeigte er schon vor 20 Jahren, als er vom britischen Komiker Sasha Baron Cohen, der später mit den von ihm verkörperten Figuren Borat und Brüno Furore machen sollte, in seine Show geladen wurde und sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Nein, er habe seine Kinder nicht in Fanklamotten des Liverpool F.C. gesteckt, um bei der Arbeiterklasse zu punkten, sagt Rees-Mogg auf Nachfrage seines Gesprächspartners. “Ich mache, was meine Kinder mir sagen. Ich bin ein sehr gehorsamer Vater.” Sein im Flüsterton vorgetragenes Bekenntnis “Ich bin ziemlich liberal” ist allerdings schwer zu glauben, denn Rees-Mogg ist ein erzkonservativer Katholik und kommt trotz der Kürze des Abends nicht ohne Bibelzitat aus. Der Hedgefondsmanager, dessen Karriere bei Rothschild begann, wählt eine erstaunliche Stelle (Markus 8, 36): “Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?” Sein liebster Superheld? Batman, und zwar der aus der alten Fernsehserie.Den größten Beifall erhält der Absolvent von Eton und Oxford, wenn er gegen das Establishment wettert. Dabei verkörpert er es wie kein anderer. Applaus gibt es auch für die Aussage, dass Brexit-Befürworter Nigel Farage viel zu verdanken hätten. “Ohne ihn hätte es kein EU-Referendum gegeben.” Er sei ein “bedeutender britischer Staatsmann”, sagt Rees-Mogg und beantwortet die Frage, ob Farage einen Adelstitel erhalten sollte, salomonisch mit: “Was Leute tun, ist so viel wichtiger, als welche Titel ihnen verliehen werden.” Einen Pakt mit der Brexit Party lehnt er ab, denn jede Stimme für Farage sei eine Stimme für Jeremy Corbyn, den Führer von Labour. Wer den Brexit wolle, müsse bei den kommenden Wahlen die Konservativen wählen.Und dann zeigt sich, dass seine Zuhörer zum Teil weit angereist sind – aus Hampshire oder Devon – und wohl größtenteils der Partei angehören. Eine Teilnehmerin warnt vor Selbstgefälligkeit. Der Ärger der Menschen über den nicht erfolgten EU-Austritt sei groß, ihre Stimmen den Tories nicht sicher. Ein Geschäftsmann aus Berkshire fragt, warum die Regierung ihre Politik nicht besser kommuniziert. “Ich war das letzte Mal so begeistert, Tory-Mitglied zu sein, als Margaret Thatcher Premierministerin war”, sagt eine Teilnehmerin. Ein dankbareres Publikum kann sich Rees-Mogg kaum wünschen.