LEITARTIKEL

Eine Frage der Prioritäten

Was ist von einem Familienvater zu halten, der zwar schon bis an die Grenze seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verschuldet ist, um sich und seinen Lieben den hohen Lebensstandard mit zwei Urlaubsreisen jährlich finanzieren zu können, aber...

Eine Frage der Prioritäten

Was ist von einem Familienvater zu halten, der zwar schon bis an die Grenze seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verschuldet ist, um sich und seinen Lieben den hohen Lebensstandard mit zwei Urlaubsreisen jährlich finanzieren zu können, aber angesichts Zinsen nahe null weitere Kredite aufnimmt? Was ist von seiner Begründung zu halten, die Kinder würden ja nicht nur die Schulden erben, sondern später auch von den damit finanzierten Investitionen in die neue klimafreundliche Hausheizung, in die Smart-Home-Technologie und in die Elektro-Wallbox in der Garage samt E-Auto profitieren? Die Kinder jedenfalls werden sich “bedanken”, weil in dreißig Jahren das Elternhaus – neue Heizung hin oder her – energetisch völlig veraltet sein wird, Smart Home längst von künstlicher Intelligenz abgelöst wurde und auf den Straßen vielleicht nur noch Autos mit Brennstoffzelle fahren dürfen – wenn überhaupt. An dieser Fehlinvestition des Familienvaters zulasten seiner Kinder ändert sich auch nichts, wenn er statt Niedrigzins gar keinen Zins bezahlen müsste oder im Falle von Negativzinsen noch einige Euro geschenkt bekäme für die höhere Verschuldung.Was für den erwähnten Familienvater gilt, trifft auch für Vater Staat zu. Weil Politiker nicht per se die Generationengerechtigkeit im Auge haben, sondern kurzfristigen Wiederwahlinteressen gehorchen und es für höhere Ausgaben immer wohlfeile Argumente gibt, wurde vor Jahren die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert und für die Haushaltspolitik mit der “schwarzen Null” der Rahmen abgesteckt. Interessanterweise ist es nun nicht die schwarz-rote Bundesregierung, die an der schwarzen Null rüttelt. Den finanzpolitischen Kurswechsel fordern neben Oppositionspolitikern auch Funktionäre und Ökonomen aus dem Arbeitnehmer- und dem Arbeitgeberlager. Die wissenschaftliche Speerspitze der Arbeitgeber, Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft, beziffert den staatlichen Investitionsbedarf für Verkehr, Breitband, Dekarbonisierung, Wohnen und Bildung auf 450 Mrd. Euro über die nächsten zehn Jahre. Und da der Realzins aktuell noch niedriger als die schwächelnde BIP-Wachstumsrate ist, halten Hüther und andere Ökonomen die Finanzierung dieser Investitionen durch zusätzliche Schulden für attraktiv. Mit einem Taschenspielertrick namens Bundessondervermögen soll dabei die Schuldenbremse umgangen werden.Dass sich staatliche Investitionen beispielsweise in Infrastruktur und Bildung “rechnen”, ist keine neue Erkenntnis. Das war schon früher so, und auch Phasen negativer Realzinsen gab es früher. Jetzt solche Investitionen außerhalb des regulären Haushalts zu führen, weil man den Finanzierungsspielraum zunehmend für konsumtive Ausgaben wie Mütterrente, Baukindergeld und demnächst vielleicht Grundrente verbraucht, wäre der völlig falsche Weg. Anders als für Grünen-Chef Robert Habeck, für den die schwarze Null “Voodoo-Haushaltspolitik” ist, steht für die meisten deutschen Steuerzahler wie auch für internationale Investoren, die deutsche Staatsanleihen kaufen, die schwarze Null für Stabilität, fiskalpolitische Vernunft und Disziplinierung der Politik. Dafür sind sie sogar bereit, negative Renditen zu akzeptieren.Es ist ja nicht so, dass die schwarze Null sinkende Staatsausgaben bedeutete. Im Jahr 2014, dem ersten Jahr des ausgeglichenen Haushalts, gab der Bund noch 295 Mrd. Euro aus. Für 2020 werden dank sprudelnder Steuereinnahmen 360 Mrd. Euro angepeilt und bis zum Jahr 2023 sollen die Ausgaben des Bundes auf 376 Mrd. Euro steigen. Einnahmeausfälle aus dem Abbau des Solidaritätszuschlags sind darin schon berücksichtigt. Das Problem ist allerdings die Verwendung für zunehmend konsumtive Zwecke. Deren Anteil soll sogar von derzeit gut 50 % auf 53 % im Jahr 2023 wachsen.Wer an die Zukunft dieses Landes und die nächste Generation denkt, darf außerdem nicht nur die expliziten Schulden in Relation zum BIP betrachten, sondern muss auch die implizite Verschuldung im Blick haben. Diese vor allem durch das umlagefinanzierte Sozialversicherungssystem entstehende Belastung der nächsten Generation lässt die Maastricht-verträgliche explizite Verschuldung von 60 % des BIP auf fast 170 % springen.——Von Claus DöringBei nach wie vor steigenden Staatseinnahmen gehört in Deutschland nicht die schwarze Null auf den Prüfstand, sondern die Prioritätensetzung.——