GASTBEITRAG

Eine Lanze für eine Chinapolitik mit Augenmaß

Börsen-Zeitung, 12.8.2020 Es ist in letzter Zeit viel von "unseren" Interessen gegenüber China die Rede. "Unser" wird dabei zumeist mit "dem Westen" gleichgesetzt. Wir wollen die Sache etwas bescheidener angehen und "nur" die Interessen Deutschlands...

Eine Lanze für eine Chinapolitik mit Augenmaß

Es ist in letzter Zeit viel von “unseren” Interessen gegenüber China die Rede. “Unser” wird dabei zumeist mit “dem Westen” gleichgesetzt. Wir wollen die Sache etwas bescheidener angehen und “nur” die Interessen Deutschlands in der Chinapolitik in den Blick nehmen.Es ist keineswegs moralisch verwerflich, wirtschaftliche Interessen in der deutschen Chinapolitik zu vertreten. In Deutschland hängen rund 1 Million Arbeitsplätze an den Exporten nach China. Mehr als 5 500 deutsche Unternehmen sind in China tätig. Im Jahr 2017 beliefen sich die deutschen Direktinvestitionen in China auf 81 Mrd. Euro. Es liegt nahe, dass die Bundesregierung die Sicherheit der Arbeitsplätze und die damit verbundenen Einkommen vieler tausend Familien schützt. Und es ist daher genau richtig, dass sie das Wohlergehen der Unternehmen in ihrer Chinapolitik im Auge behält. Wenn es nach der Moral allein ginge, dürfte Deutschland im Übrigen mit einer Reihe anderer Länder, einschließlich westlicher, ebenfalls keine Geschäfte mehr tätigen.Wer sich für eine geringere Gewichtung der wirtschaftlichen Interessen in der deutschen Chinapolitik ausspricht, führt in der Regel an, dass das chinesische System des autoritären Staatskapitalismus die Freiheit seiner Bürger weniger achtet, als wir das in unserem Land tun. Aktuell konzentriert sich die Kritik an China an dem neuen Sicherheitsgesetz für Hongkong, das drohe, den mit Großbritannien für 50 Jahre vereinbarten Grundkonsens “Ein Land, zwei Systeme” zwar nicht aufzukündigen, aber doch aus Sicht vieler Hongkonger auszuhebeln. Einheit nicht verhandelbarDie Gemengelage in dieser Frage ist allerdings etwas komplizierter als der Gegensatz von “autoritärem Regime in Peking” versus “freie Bürger in Hongkong”. Es geht hinsichtlich der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong nicht nur um Demokratie und Menschenrechte, sondern auch um die Einheit der chinesischen Nation. Sicher ist, dass für China die Einheit des Landes nicht verhandelbar ist. Das rechtfertigt nicht das neue Sicherheitsgesetz, verdeutlicht aber, dass Separatismus in der Hongkong-Frage für das chinesische Selbstverständnis als große Gefahr empfunden wird.Wirtschaftliche Interessen in der deutschen Chinapolitik zu vertreten ist auch nicht politisch kontraproduktiv. Es wird dagegen argumentiert, dass eine “harte Politik”, die sich zwischen “Entkoppelung” und einem neuen “kalten Krieg”` gegenüber China bewegt, den Interessen Deutschlands und Europas besser nütze als die aktuelle Politik der Bundesregierung und anderer europäischer Staaten. Diese Politik wird als “Appeasement-Politik” denunziert mit all ihren historischen Konnotationen. Auch wird unterschlagen, dass in der vorangegangenen Phase der langen Kooperation zwischen “dem Westen” und China nicht nur große wirtschaftliche, sondern auch soziale und gesellschaftliche Fortschritte für die Menschen in China erreicht wurden. Neuer kalter KriegEs wird auch suggeriert, dass eine “harte Haltung” gegenüber China den Bürgern in Hongkong nützen würde. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Eine wirtschaftliche und politische Entkoppelung von China wird dazu führen, dass die Menge der gemeinsamen Interessen ab- und umgekehrt das Konfliktpotenzial zunimmt. Das Resultat dürfte ein neuer kalter Krieg sein.Integration und Gemeinsamkeiten, nicht Entkopplung und “kalter Krieg”, sind die rationalen und erfolgversprechenden Leitlinien der deutschen Chinapolitik. Integration und Gemeinsamkeiten bilden Verhandlungsmasse – also eine Basis, um mit China über das zu sprechen, was auch unseren Vorstellungen von Werten und Menschenrechten entspricht. Die chinesische Außenpolitik gegenüber Deutschland und Europa baut auf dem Prinzip der Koexistenz auf. Kluger WirtschaftskursChina ist ein hoch komplexes Land mit einer bewegten Geschichte. Das bevölkerungsreichste Land der Erde erkennt offiziell 56 Ethnien an. In den vergangenen Jahrzehnten hat eine kluge Wirtschaftspolitik den heute fast 1,4 Milliarden Menschen verlässlichen Zugang zu Nahrung, zu Bildung, zum Gesundheitssystem verschafft. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in den letzten 40 Jahren um das fast 180-Fache gestiegen. Technologisch hat China in vielen Bereichen Spitzenleistungen zu bieten.Der Realität Chinas können wir nicht mit einfachen Lösungen begegnen. Heute ist China beides: anspruchsvoller Partner und selbstbewusster Wettbewerber. Wir müssen uns immer wieder auf die Komplexität unserer Beziehung mit China einlassen und Gemeinsamkeiten suchen. Diesen schwierigen Weg gilt es weiter zu bestreiten – im deutschen und europäischen Interesse. Rolf D. Cremer, Ehemaliger Dekan der China Europe International Business School, Schanghai und Horst Löchel, VWL-Professor und Leiter des Sino-German Center an der Frankfurt School of Finance & Management