Eine neue Kuh auf dem Eis
Zum Langweiligsten, was Brüssel zu bieten hat, zählen Vertragsverletzungsverfahren. Hunderte Verfahren laufen – und zu Recht interessieren sie kaum.
Nun aber sorgt ein Fall für Schnappatmung. Die EU-Kommission knöpft sich Deutschland vor – Anlass sind Urteile über EZB-Ankaufprogramme. Der EU-Gerichtshof (EuGH) sieht keine Bedenken, das Bundesverfassungsgericht durchaus. Vorigen Mai eskalierte der Streit, als das deutsche Gericht den Europarichtern vorwarf, ihre Kompetenzen überschritten zu haben. Damit habe Karlsruhe, so beklagt jetzt die EU-Kommission, fundamentale Prinzipien der EU verletzt – nämlich den Vorrang des EU-Rechts und die Achtung der Rechtsprechung des EuGH.
Es geht also um heikle, hochpolitische Dinge. Um die Frage, ob europäisches Recht Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht hat. Und um das Selbstverständnis der EU als loser Staatenbund oder als Rechtsgemeinschaft auf dem Weg zu engerer Zusammenarbeit.
Reibereien zwischen Gerichten sind per se nichts Schlechtes. In der Vergangenheit haben Clinches zwischen Karlsruhe und Luxemburg letztlich oft die Integration vorangetrieben, etwa im Streit um den Grundrechtsschutz. Das funktionierte aber nur, weil die Gerichte miteinander in einem intakten Dialog standen. Gerade dieser wichtige Kanal des vertraulichen Austauschs scheint nun gefährdet. Einerseits – und diesen Vorwurf muss man den Bundesverfassungsrichtern machen – wegen des rabaukenhaften Tons, in dem sie vorigen Mai ihr Urteil gesprochen haben. Immerhin diskreditierten sie die Entscheidungen des EuGH damals als „schlechterdings nicht nachvollziehbar“ – eine Steilvorlage für Populisten, die diese Beleidigung des EU-Gerichts gerne zitierten. Andererseits – und das muss man nun der EU-Kommission vorhalten – weil unklar ist, wie Berlin auf das losgetretene EU-Verfahren reagieren soll, um Brüssel zufriedenzustellen. Die EU-Kommission führt damit eine Kuh aufs Eis, die man dort nur schwer wieder runterbekommt.
Kurzum: Es gibt gute Argumente für die EU-Kommission, auf Urteile wie das des Verfassungsgerichts zu reagieren – durch politische Erklärungen, idealerweise gemeinsam mit nationalen Regierungen oder vielleicht durch legislative Initiativen. Ein Vertragsverletzungsverfahren taugt jedoch allenfalls für Abmahnungen wegen der Umsetzung von EU-Vorgaben für Fischereinetze. Nicht zur Lösung einer Grundsatzfrage der EU – und schon gar nicht, um den in Europa so wichtigen Dialog der Gerichte neu zu beleben.