LEITARTIKEL

Einigt euch!

Großbritannien und die EU stehen kurz davor, die letzte Chance auf eine einvernehmliche Trennung zu verspielen. Die große Brexit-Müdigkeit aller Beteiligten hat dazu geführt, dass der Ernst der Lage nicht erkannt wird: Einen weiteren...

Einigt euch!

Großbritannien und die EU stehen kurz davor, die letzte Chance auf eine einvernehmliche Trennung zu verspielen. Die große Brexit-Müdigkeit aller Beteiligten hat dazu geführt, dass der Ernst der Lage nicht erkannt wird: Einen weiteren Kompromissvorschlag der Briten wird es wohl nicht geben. Es wird auch nicht vorerst alles beim Alten bleiben, weil die Regierung in London keine weitere Verlängerung der Austrittsfrist wünscht. In der Downing Street geht man davon aus, dass man um die Beantragung eines erneuten Aufschubs herumkommen wird, obwohl Boris Johnsons Gegner glauben, ihn durch ein Gesetz gebändigt zu haben. Und auch wenn sich unter den EU-Mitgliedsländern keine Einigkeit darüber herstellen lassen sollte, den Briten noch mehr Zeit zu gewähren, wäre das Vereinigte Königreich nach dem 31. Oktober kein Mitglied mehr.Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, welche Folgen ein derartiger Bruch hätte. Es geht um weit mehr als die Schließung unrentabler britischer Automontagewerke oder die höheren Kosten, die Unternehmen vom Kontinent bei der Mittelbeschaffung entstehen werden, wenn sie nicht mehr uneingeschränkt auf den Finanzplatz London zurückgreifen können. Großbritannien wäre nach einem harten Brexit nur noch geografisch Teil Europas, würde sich aber politisch und wirtschaftlich in Richtung Vereinigte Staaten entwickeln. Die Beziehungen zwischen Westminster und den Regierungen der EU-Mitgliedsländer wären auf Jahre hinaus vergiftet, die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit weitgehend beendet. Die Nato hätte ein weiteres existenzielles Problem. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass britische Soldaten nach einem ungeregelten Brexit ihr Leben für EU-Interessen aufs Spiel setzen würden?Donald Trump lockt die Briten schon seit einiger Zeit mit einem Freihandelsabkommen, das zumindest einen Teil des Geschäfts kompensieren würde, das in Europa verloren gehen könnte. London wäre zwar gegenüber Washington in einer sehr schwachen Verhandlungsposition, aber wohl eher bereit, Nachteile in Kauf zu nehmen, als in künftigen Gesprächen mit Brüssel, wo in den vergangenen drei Jahren keine Gelegenheit ausgelassen wurde, die britische Seite zu demütigen. Und plötzlich hätte die EU genau das vor der Haustür, was sie durch ihre harte Verhandlungsführung eigentlich verhindern wollte: ein mächtiges Finanzzentrum mit einem enormen Offshore-Euro-Markt, auf das sie keinerlei Einfluss mehr nehmen könnte, ein Musterland der Deregulierung und zugleich einen unsinkbaren Flugzeugträger des strategischen Rivalen USA.Und wenn die Brexit-Gegner es schaffen sollten, Johnson durch eine Übergangsregierung abzulösen? Bislang konnten sie sich nicht einmal darauf einigen, wer an der Spitze einer solchen Regierung stehen soll, von gemeinsamen Vorstellungen, wie es danach weitergehen soll, einmal ganz abgesehen. Aber egal ob am Ende Speaker John Bercow oder die Labour-Veteranin Harriet Harman eine Verlängerung der Frist für den EU-Austritt erbitten würde, eine Neuwahl wäre unvermeidlich. Sie würde von den Konservativen mit dem Versprechen, die EU unverzüglich zu verlassen, problemlos gewonnen. Wegen des Zuschnitts der Wahlkreise spielt es keine große Rolle, dass lediglich ein Drittel der Wahlberechtigten für die Tories stimmen würde. Diese hätten am Ende die Mehrheit im Unterhaus, weil sich das Anti-Brexit-Lager auf nichts einigen kann. Man stünde vor dem gleichen Abgrund wie im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen noch in dieser Woche, hätte aber erneut Zeit verloren.Großbritannien hat der EU zuletzt erstaunliche Zugeständnisse gemacht, wenn man bedenkt, dass diese Regierung angetreten ist, das Land auch ohne Übereinkunft mit Brüssel aus dem Handelsblock zu führen. Nordirland soll dem jüngsten Vorschlag aus London zufolge de facto im gemeinsamen Markt bleiben und damit weiterhin der EU-Regulierung unterliegen – eine wesentlich elegantere Lösung als in der im Namen von Theresa May ausgehandelten Austrittsvereinbarung. Das vermeintliche Problem irische Grenze, das bislang jede Einigung verhindert, ließe sich damit aus dem Weg räumen. Im Unterhaus zeichnet sich bereits eine Mehrheit für den Vorschlag Johnsons ab. Scharfe Brexit-Befürworter wie Jacob Rees-Mogg signalisieren Kompromissbereitschaft. Es wäre ein dramatisches Versagen der europäischen Politik, sollte eine Einigung auf dieser Grundlage nicht möglich sein.——Von Andreas HippinGroßbritannien hat der EU erstaunliche Zugeständnisse gemacht. Es ist an der Zeit, sich zu einigen, sonst droht ein radikaler Bruch.——