LEITARTIKEL

Ende der Zinswende

Das Ende der vermeintlichen Zinswende hat begonnen. Der frenetisch gefeierte erste Zinsschritt der Bank of England im November vergangenen Jahres war nichts weiter als eine teilweise Rücknahme der überzogenen Reaktion auf den Ausgang des...

Ende der Zinswende

Das Ende der vermeintlichen Zinswende hat begonnen. Der frenetisch gefeierte erste Zinsschritt der Bank of England im November vergangenen Jahres war nichts weiter als eine teilweise Rücknahme der überzogenen Reaktion auf den Ausgang des EU-Referendums. Schön wäre es schon gewesen, wenn die britische Wirtschaft noch vor dem Brexit die nötige Fluchtgeschwindigkeit erreicht hätte, um die in der Finanzkrise eingeleiteten geldpolitischen Notstandsmaßnahmen auslaufen zu lassen. Am Finanzmarkt wurde einem weiteren Zinsschritt noch vor einigen Wochen eine Wahrscheinlichkeit von 90 % zugesprochen. Vorangegangen waren entsprechende Aussagen der Notenbank. Trotzdem wurde von der Entscheidung, alles beim Alten zu belassen, am Ende kaum einer auf dem falschen Fuß erwischt. Gouverneur Mark Carney hatte in einem BBC-Interview bereits den Rückwärtsgang eingelegt. Anfang der Woche wurde nur noch eine Wahrscheinlichkeit von 8 % eingepreist.Man könnte nun wieder über den “unzuverlässigen Liebhaber” schimpfen. Carney hat diesen Spitznamen nicht ohne Grund von einem britischen Finanzpolitiker erhalten. Marktteilnehmer fühlten sich oft von seinen Aussagen zur künftigen Zinsentwicklung in die Irre geführt. Vieles spricht aber dafür, dass sich der in die Jahre gekommene Wirtschaftsaufschwung seinem Ende nähert. Mit dem Kniff, ein niedrigeres Potenzialwachstum anzunehmen, haben sich die britischen Notenbanker im Februar zwar einen Grund dafür geschaffen, die Latte für Zinserhöhungen künftig niedriger zu legen. Aber offenbar schrecken sie davor zurück, davon auch Gebrauch zu machen. Zu schwach waren die jüngsten Wirtschaftsdaten. Die Versuchung war zwar groß, das anämische Wachstum im ersten Quartal auf den heftigen Wintereinbruch im März zu schieben. Aber das Statistikamt ONS war schon bei Veröffentlichung der Erstschätzung anderer Ansicht. Man hätte die Einkaufsmanagerindizes, die auf eine schleppende Erholung im April hindeuteten, als unverbindliche Meinungsumfragen abtun können. Aber der Preisauftrieb blieb im März erneut unter den Erwartungen, und am Arbeitsmarkt will sich trotz einer Beschäftigungsquote auf Rekordniveau einfach kein Lohndruck einstellen. Der Häusermarkt hat sich abgekühlt. Die Vergabe von Hypotheken ist im Vorjahresvergleich rückläufig. Es gibt also gute Gründe, die Füße still zu halten. Zumal sich auch in Europa und den Vereinigten Staaten Hinweise auf eine Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung zeigen.Die größte negative Überraschung droht vom Arbeitsmarkt, der sich wegen der großen Zahl von geringfügig Beschäftigten und irgendwie Selbständigen sowie der Auswirkungen von Digitalisierung und Globalisierung mit der mechanischen Sicht der Nationalökonomen nicht mehr erfassen lässt. Die Bank of England unterstellt einfach, dass das Lohnwachstum 2019 auf 3,25 % steigen wird, im Jahr darauf auf 3,5 %. Das ist ihre wichtigste Rechtfertigung weiterer Zinsschritte. Es sind aber keine so starken Steigerungen des gesetzlichen Mindestlohns vorgesehen. Und eine organisierte Arbeiterschaft, die solche Lohnforderungen durchsetzen könnte, gibt es in Großbritannien nicht mehr. Allenfalls im öffentlichen Dienst dürften die lange eingefrorenen Gehälter deutlich steigen. Die wachsende Unsicherheit rund um den Brexit stärkt auch nicht gerade die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten. Liest man den Inflationsbericht, hat man unweigerlich den Eindruck, dass die Fiktion, die Zinsen könnten demnächst weiter steigen, irgendwie aufrechterhalten werden soll. Nicht auszuschließen, dass deshalb irgendwann noch ein Schritt um 25 Basispunkte folgt.Dabei sorgen steigende Zinsen über kurz oder lang dafür, dass Banken die Bewertungen von als Sicherheiten für Kredite hinterlegten Immobilien nach unten korrigieren müssen. Sie würden angesichts der hohen Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte vielerorts Schmerzen auslösen. Daran hat in Großbritannien niemand Interesse, zumal die lockere Geldpolitik einen guten Puffer gegen mögliche Verwerfungen durch den Brexit bietet. Aber eine etwas höhere Teuerungsrate ist eine interessante Lösung, will man die Ungleichverteilung der Vermögen etwas mildern. Am Finanzmarkt hat man die Zeichen der Zeit längst erkannt. Bis vor dem Zinsentscheid wurde eine weitere Erhöhung im November für sicher gehalten, danach wurde ihr nur noch eine Wahrscheinlichkeit von 85 % zugebilligt. —Von Andreas HippinDie Geldpolitiker der Bank of England hatten die Latte für weitere Zinserhöhungen bereits niedriger gelegt. Trotzdem schreckten sie nun davor zurück.—