NOTIERT IN LONDON

Ende einer Zivilreligion

Das britische Rote Kreuz hat von einer "humanitären Krise" gesprochen, nachdem zwei Patienten im Gang eines englischen Krankenhauses verstorben waren, in dem sich die Betten mit auf Behandlung wartenden Patienten stauten. Nein, die...

Ende einer Zivilreligion

Das britische Rote Kreuz hat von einer “humanitären Krise” gesprochen, nachdem zwei Patienten im Gang eines englischen Krankenhauses verstorben waren, in dem sich die Betten mit auf Behandlung wartenden Patienten stauten. Nein, die Coronavirus-Pandemie war nicht dafür verantwortlich, denn diese Wortmeldung kam zum Jahreswechsel 2016/17, als das Rote Kreuz in England aushelfen musste wie sonst in Krisenregionen Afrikas. Der National Health Service (NHS) ist schon in normalen Zeiten völlig überfordert. Seit seiner Gründung wurden Leistungen rationiert. Mehr als 30 000 Pfund sollte die Behandlung zur Verlängerung eines Lebens um ein Jahr nach den Kosten-Nutzen-Rechnungen des Instituts mit dem Orwell’schen Akronym NICE (National Institute for Health and Care Excellence) nicht kosten.Dennoch genießt das Gesundheitswesen eine geradezu religiöse Verehrung in breiten Bevölkerungsschichten. Viele Menschen sind stolz auf diese soziale Errungenschaft. Wie in Italien wird nun auch in Großbritannien brav vom Balkon oder von der Eingangstür geklatscht, um den Einsatz der NHS-Mitarbeiter zu würdigen – donnerstags um 20 Uhr. Der Glaube an den NHS als Zivilreligion stiftet Identität und schafft Akzeptanz für die bisweilen erbärmlichen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens. Am strahlenden Image desselben wird im öffentlich-rechtlichen Rundfunk so wenig gekratzt wie im “Guardian”, schließlich ist es eine Domäne von Labour, die gegen die allen Kritikern unterstellte Privatisierungsabsicht verteidigt werden muss.Nach dem Ende der Pandemie wird es mit ziemlicher Sicherheit eine Untersuchung der chaotischen Zustände dort geben, die dafür sorgen werden, dass in den kommenden Wochen viele Menschen sterben, deren Tod vermeidbar gewesen wäre. Unter ihnen werden auch Ärzte und Krankenschwestern sein, die ohne die nötige Schutzausrüstung in den Kampf gegen den Virus geschickt wurden.Die Schuld dafür wird gerne der Regierung zugeschoben. Tatsächlich trägt sie die überbordende Bürokratie des Gesundheitswesens, die unfähig dazu war, das vorhandene Material rechtzeitig aus den Lagerhäusern in die Krankenhäuser zu bringen. Die Spitzenbeamten des öffentlichen Dienstes lassen sich der “Sunday Times” zufolge mittlerweile jede Anweisung schriftlich geben, um sich rechtlich abzusichern. Am Ende musste die Armee die Logistik stemmen. Schutzausrüstungen sind jedoch weiter Mangelware, weil die interne Verteilung nicht funktioniert. Zudem wird so getan, als seien sie für bestimmte Tätigkeiten gar nicht nötig. Angeblich halten mancherorts Vorgesetzte dringend benötigtes Material wie Schutzmasken für sich selbst zurück. Viele NHS-Mitarbeiter haben Angst um ihre eigene Gesundheit und tun dennoch alles, um den Kranken zu helfen.Ein Viertel der Belegschaft des NHS befindet sich in Selbstisolation. Viele würden gerne weiterarbeiten, wollen den Virus aber nicht unter Kollegen und Patienten weiterverbreiten. Doch für die hoch bezahlten Funktionäre von Public Health England haben Tests der Mitarbeiter des Gesundheitswesens keine Priorität. Auf Labors von Universitäten oder gar der Privatwirtschaft will man schon gar nicht zurückgreifen, um mehr Menschen testen zu können. Das würde ja einer Privatisierung den Weg bereiten. Hilfsangebote werden ignoriert und Geräte mit der Begründung abgewiesen, dass sie nicht genau den Anforderungen entsprechen. Aus demselben Grund wurden angeblich Tausende von Abstrichen vernichtet, die Hausärzte eingeschickt hatten. Lieber prüft man im gewohnten Schneckentempo, ob die von der Regierung zusammengekauften Tests auch das leisten, was auf der Packung steht. Denn schließlich kann man sich auf das Urteil der Behörden anderer Länder nicht verlassen. Die durch soziale Distanzierung erkaufte Zeit wird verbummelt. Der Glaube an den NHS verpufft. Statt alle Vorschriften außer Kraft zu setzen, die eine schnelle Antwort auf die Pandemie verhindern, hat sich die Regierung nur allzu bereitwillig den Vorgaben der Apparatschiks unterworfen. Premierminister Boris Johnson wird einen hohen Preis dafür bezahlen. Die Zustimmung zu den Ausgangsbeschränkungen schwindet bereits.