Epochenwandel durch Digitalisierung
Von Stephan Lorz, FrankfurtDie Umstände für die Diagnose sind erschreckend vergleichbar: Mitte der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts warnte der Harvard-Ökonom Alvin Hansen noch unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise vor einer säkularen Stagnation, einer anhaltenden Wachstumskrise. Damals herrschte Depression allerorten. Totalitäre Regierungsformen fanden immer größeren Zuspruch. Ein Weltkrieg wurde vom Zaun gebrochen.Auch heute liegt eine tiefe Finanzkrise hinter uns, und es ist wieder von einer säkularen Stagnation die Rede. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman und der frühere Finanzminister Lawrence “Larry” Summers nahmen den Begriff 2011 bzw. 2013 wieder auf. Sie diagnostizierten erneut eine lange Phase schwachen Wachstums und ein Umfeld niedriger Realzinsen und Inflation. Die traditionelle Geldpolitik scheint machtlos, weil die nominellen Zinsen die Untergrenze erreicht haben.Und tatsächlich stellt sich die Gesundung der Wirtschaft als schwierig und langwierig heraus – vielleicht zu langwierig für viele Menschen, die sich deswegen wieder von Populisten und deren Versprechungen einnehmen lassen. Von einer “neuen Normalität” ist die Rede, was die Gesellschaft nicht nur wegen der niedrigen Sparzinsen herausfordert, sondern von ihr auch eine demokratische Standhaftigkeit verlangt angesichts dessen, dass der Kapitalismus sein Wohlstandsversprechen offenbar nicht mehr erfüllt. Denn Wachstum ist nicht nur notwendig, um neue Jobs zu schaffen für jene Arbeitnehmer, deren Stellen dem technischen Fortschritt zum Opfer fallen. Sondern auch, um die (Staats-) Schulden zu schultern und den mittelbaren Verpflichtungen aus der demografischen Entwicklung (Rente) nachkommen zu können.Die demografische Entwicklung ist auch eine Ursache für die “säkulare Stagnation”. Denn die aktuelle Generation muss unter Konsumverzicht mehr sparen, um ihre Altersvorsorge zu sichern. Dadurch sinkt der Zins; noch größere Sparanstrengungen sind eigentlich nötig.Zugleich hadern die Unternehmen damit, die ultraniedrigen Zinsen für Investitionen auszunutzen. Zum einen, weil sie die demografische Lage ebenfalls vor Augen haben und angesichts der Altersstruktur sich eine gewisse Wohlstandssättigung einstellt, zum anderen, weil die Verschuldung dramatisch angestiegen ist – auf staatlicher wie privater Seite. Die Schulden der öffentlichen und privaten Haushalte sowie der nichtfinanziellen Unternehmen liegen weltweit jetzt bei 225 % der Wertschöpfung. Seit der Finanzkrise hat sich an der Tendenz steigender Verschuldung nichts geändert. Das erzeugt Unsicherheit, sorgt für Attentismus. Bremsfaktor UngleichheitUnd noch etwas kommt hinzu: Der technische Fortschritt schlägt sich nur zögerlich in höherem Produktivitätswachstum nieder. Zugleich sorgt die Digitalisierung für eine Akkumulation der daraus erzielten Profite bei weniger Personen/Unternehmen. Die Sorge geht also um, dass im Zuge von Industrie 4.0, der Roboterisierung und des Wandels zum 3-D-Druck mehr Jobs verloren gehen, als neue geschaffen werden. Digitale Plattformarchitekturen funktionieren zudem häufig nach dem Prinzip: “the winner takes it all” – und das sind Entwicklerteams und Kapitaleigner bei jenen Unternehmen, die sich des meisten Zuspruchs erfreuen. Sie häufen immer höhere Cash-Bestände (in Steueroasen) an, wo sie investiv brachliegen.Das könnte die Arbeitslosigkeit wieder ansteigen lassen, was die Soziallasten der Staaten vergrößert, und die Masse der Arbeitnehmer kann nicht mehr mit Lohnsprüngen rechnen wie zu früheren Zeiten. Die Ungleichheit wird also immer größer. Und tatsächlich liegt die Kaufkraft der meisten Arbeiter und Angestellten in vielen Industrieländern noch unter Vorkrisenniveau. “Es gibt ein zunehmendes Missverhältnis zwischen der Bereitschaft, Geld auszugeben, und der Fähigkeit, dies auch zu tun”, beklagt der frühere Chef der Allianz-Tochter Pimco Mohamed Aly El-Erian. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger spricht von einem “chronischen Nachfragedefizit”.Wie ist dieser Entwicklung beizukommen? Nachfrageorientierte Ökonomen fordern neben stärker steigenden Löhnen auch höhere Staatsausgaben etwa für die Infrastruktur oder die Abschaffung des Bargelds, um das Sparkapital in Investitionen zu zwingen. Angebotsorientierte Ökonomen sehen die Lösung in Strukturreformen, in einer Bilanzbereinigung (Entschuldung) und in Anreizen für mehr Investitionen und Innovationen. Beide Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber und blockieren sich gegenseitig. Derweil geht die Entwicklung weiter, die Menschen werden immer mehr verunsichert, fühlen sich abgehängt und zeigen sich zunehmend empfänglich für politische Parolen.