LEITARTIKEL

Es gärt weiter

Emmanuel Macron hat die Hälfte des Weges geschafft. Während so manch anderer Politiker die Gelegenheit nutzen würde, um hervorzuheben, was er in dieser Zeit schon alles erreicht hat, war Frankreichs Präsident danach nicht richtig zumute. Denn die...

Es gärt weiter

Emmanuel Macron hat die Hälfte des Weges geschafft. Während so manch anderer Politiker die Gelegenheit nutzen würde, um hervorzuheben, was er in dieser Zeit schon alles erreicht hat, war Frankreichs Präsident danach nicht richtig zumute. Denn die Mitte seiner Amtszeit fiel fast zeitgleich mit einem anderen Ereignis zusammen, das Frankreich in den letzten Monaten stark verändert hat. Zwar spielen die Proteste der Gelbwesten ein Jahr nach ihrem Beginn so gut wie keine Rolle mehr, auch wenn jetzt vor allem extremistische Randalierer das Jubiläum nutzten, um sich mit Gewalt in Erinnerung zu bringen. Doch unter der Oberfläche gärt es in Frankreich weiter – trotz der rund 15 Mrd. Euro schweren Zugeständnisse, die Macron an die Gilets Jaunes in Form von Sofortmaßnahmen und später angekündigten Steuererleichterungen gemacht hat. Der ganz im Zeichen davon stehende Haushaltsentwurf 2020 sollte diesen Dienstag von der Nationalversammlung verabschiedet werden.Seit den Europawahlen im Mai waren die Gelbwesten kaum noch zu sehen, nachdem sie vorher Einzelhändlern in französischen Innenstädten monatelang an Samstagen das Geschäft verdorben hatten. Dafür ist in den letzten Wochen die Unzufriedenheit bestimmter Berufsgruppen umso mehr zutage getreten. So sind das Pflegepersonal von Krankenhäusern, Feuerwehrleute, Polizisten, Landwirte und Bahnmitarbeiter auf die Straße gegangen oder haben gestreikt, um ihrem Unmut Luft zu machen. Es sind diese Proteste, die Macron und seine Regierung inzwischen schlecht schlafen lassen. Ihr Alptraum ist, dass sich diese Gruppierungen mit den Gelbwesten zusammentun könnten, um die geplante Rentenreform zu verhindern. Immerhin haben bereits zahlreiche Gewerkschaften Proteste und Streiks für den 5. Dezember angekündigt. Die Stimmung in Frankreich ist nach wie vor explosiv. Deshalb träumt so mancher Arbeitnehmervertreter bereits von einer Wiederauflage der Proteste gegen die von dem damaligen Premierminister Alain Juppé geplanten Sozial- und Rentenreformen, die Frankreich Ende 1995 mehrere Wochen lang zum Stillstand brachten.Als die Proteste der Gelbwesten vor einem Jahr begannen, haben die Gewerkschaften es nicht vermocht, die Bewegung als Plattform für sich zu nutzen. Und auch jetzt haben sich die verschiedenen Protestbewegungen bisher nicht zusammengeschlossen. Doch es bedarf nach Ansicht von Experten nicht viel, um die angespannte Situation kippen zu lassen. Die Rentenreform könnte dieser Auslöser sein. Denn zahlreiche Franzosen fürchten, dass sie schlechter gestellt werden. Zudem versteht kaum einer mehr, was dem jungen Präsidenten bei der Reform außer der Bündelung der verschiedenen Rentenkassen in einer und der Einführung eines Punktesystems genau vorschwebt. All das bietet den idealen Nährboden für Falschnachrichten. Die Gefahr, dass die Gelbwesten nun wie bereits im vergangenen Jahr von Rechts- und Linksextremisten manipuliert und gegen Macron aufgeputscht werden, ist groß.Noch kann keiner vorhersagen, ob der Zorn des Volkes groß genug ist, damit sich die verschiedenen Protestbewegungen zum gemeinsamen Kampf zusammenschließen. Macron und seine Rentenreform könnten ihnen das Feindbild liefern, das sie eint. Während es den Gewerkschaften relativ einfach gelingen kann, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone wie 1995 durch Streiks bei Bahn, Metro und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln lahmzulegen, stehen ihre Chancen, ihre Streiks auf die Privatwirtschaft auszuweiten, eher schlecht. Theoretisch ist es zwar ebenfalls möglich, dass sich die verschiedenen Berufsgruppierungen, die in den letzten Wochen protestiert haben, jetzt zusammentun. Doch ihre Interessen sind sehr unterschiedlich, so dass die Regierung dies nutzen kann, um sie mit verschiedenen Versprechungen zu befriedigen.Die größte Gefahr der geplanten Proteste gegen die Rentenreform ist weniger, dass das gesamte Land lahmgelegt werden könnte. Vielmehr besteht das wahre Risiko darin, dass Extremisten sie als Plattform nutzen, um wie beim Jubiläum der Entstehung der Gelbwesten-Protestbewegung Gewalt und Chaos zu säen. Denn es ist fraglich, ob es den Gewerkschaften gelingen wird, sie zu bändigen. Diese haben in den letzten Jahren immer mehr an Autorität verloren. Das haben die Proteste der Gilets Jaunes nur zu deutlich vor Augen geführt. Denn es waren sie und nicht die Gewerkschaften, die Macron zu milliardenschweren Zugeständnissen gebracht haben. Der 5. Dezember wird deshalb nicht nur für ihn, sondern auch für sie zum Test.——Von Gesche WüpperDer Zusammenschluss der Gelbwesten mit anderen Protestgruppierungen gegen die Rentenreform ist der Alptraum der Regierung von Macron.——