"Es gibt irgendetwas, von dem wir noch nichts wissen"

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 19.11.2015 Geldpolitiker haben es in diesen Zeiten nicht leicht: Die Zinsen sind bereits im negativen Bereich, Geschäftsbanken erhalten Geld für lau, Notenbanken erwerben in großem Maßstab Anleihen, doch...

"Es gibt irgendetwas, von dem wir noch nichts wissen"

Von Stephan Lorz, FrankfurtGeldpolitiker haben es in diesen Zeiten nicht leicht: Die Zinsen sind bereits im negativen Bereich, Geschäftsbanken erhalten Geld für lau, Notenbanken erwerben in großem Maßstab Anleihen, doch die Inflation will nicht anspringen, Kreditvergabe und Konjunktur machen allenfalls einen kleinen Hopser. Zu früheren Zeiten wäre in diesem Umfeld der Bär los, würde man über hohe Teuerungsraten lamentieren und vor Kreditblasen warnen.Die Erklärungsversuche gehen in unterschiedliche Richtungen: Geldpolitiker verweisen in der Regel auf die Tiefe der Krise und die lange Rekonvaleszenzphase der Wirtschaft, weshalb Banken, Unternehmen und Konsumenten auf die Rezeptur der Notenbanken eben noch nicht so gut ansprechen. Zahlreiche Ökonomen diagnostizieren indes einen Paradigmenwechsel hin zu einer “säkularen Stagnation”. Die alten Rezepte wirken nicht mehr, weil sich der Metabolismus des ganzen Wirtschaftssystems völlig umgestellt habe.Deshalb, so etwa Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater oder auch der frühere Bundesbankpräsident und derzeitige UBS-Präsident Axel Weber, müsse man auch über das unerreichbar erscheinende zweiprozentige Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) reden. “Das Inflationsziel infrage zu stellen wäre ehrlicher, als daran festzuhalten und immer wieder zu verfehlen”, kritisiert Weber. Kater lobt zwar die Reaktion der EZB in der akuten Krisenphase, verlangt jetzt aber wegen der strukturellen Veränderungen der Wirtschaft ein Überdenken der Strategie: “Draghi ist ein guter Rallyefahrer; aber, was hilft das, wenn man in der Zone 30 unterwegs ist?””Säkulare Stagnation” beschreibt ein Umfeld, in der das Wachstum eine Landes über längere Zeit gering ist oder ausbleibt, trotz aller Anstrengungen der Geldpolitik. Mehrere Faktoren können für diese Wachstumsfalle verantwortlich sein. Etwa die Demografie, wenn die Bevölkerung schrumpft und die Menschen für die Alterssicherung mehr sparen; eine wachsende Einkommensungleichheit, was wegen der hohen Sparquote der vermögenderen Schichten den Konsum dämpft; Sättigungstendenzen der Konsumenten in den entwickelten Volkswirtschaften; die Digitalisierung, in der viele Produkte mit Daten und nicht mit Geld bezahlt werden, Netzwerkeffekte um sich greifen und sich Produktivitätssteigerungen ohne große Investitionen vollziehen; und fehlende staatliche Investitionen wegen der hohen Verschuldung. Das führt zu weniger (messbarem) Konsum, weniger Investitionen.Kater und Weber verlangen darum, dass sich die Geldpolitik mehr zurückhält. Allein die Politik sei mit Strukturreformen gefordert. Weber: “Die Geldpolitik sollte der Politik nicht immer die Last der Reformen abnehmen und ihr nicht immer wieder neue Zeit erkaufen.”Doch das Gegenteil ist der Fall, wie die jetzt in Aussicht gestellten Erweiterungen der EZB-Anleihekäufe signalisieren. Kater kritisiert, dass die EZB ohnehin immer mehr liefert, als von den Märkten erwartet wird. Das sei eine Gefahr für ihre Glaubwürdigkeit. Die Notenbank würde sich obendrein zu sehr von den Märkten abhängig machen.Bundesbankvorstand Claudia Buch bezweifelt allerdings die Diagnose der Ökonomen und argumentiert konventionell. Sie verweist wie der frühere EZB-Chef Jean-Claude Trichet auf die Tragweite der Finanz- und Schuldenkrise, von der sich die Wirtschaft immer noch nicht erholt habe. Trichet: “Wir befinden uns noch immer im Schatten des großen Dramas.” Hinzu käme der Energiepreisverfall und die demografische Entwicklung, so Buch. Das alles sei “noch kein Grund, die Lehrbücher neu zu schreiben”. Zwar müsse sich die Politik mehr um Strukturreformen bemühen, Zweifel an der Wirkung der Geldpolitik seien aber fehl am Platz.Gleichwohl zeigt sich Trichet in Bezug auf die ökonomischen Folgen der Digitalisierung etwas irritiert. Er erwähnt das “Musik-Paradox”. In der Streamingwelt schlage sich der Mehrkonsum von Musik nicht mehr im Bruttoinlandsprodukt nieder. Die Wechselwirkungen änderten sich. “Es gibt irgendetwas, von dem wir noch nichts wissen”, orakelt Trichet. ——–Säkulare Stagnation lässt die Geldpolitik ins Leere laufen. Eindrücke von der Euro Finance Week.——-