Estland will Europa eine neue Balance geben

Erstmalige EU-Ratspräsidentschaft legt den Fokus auf die Digitalisierung - Viel Vorschusslorbeer

Estland will Europa eine neue Balance geben

Von Andreas Heitker, BrüsselEigentlich hatte am Wochenende Großbritannien die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen sollen. Doch nach dem Brexit-Votum wurden diese Pläne kurzfristig wieder verworfen. Estland erklärte sich daraufhin bereit, seinen erst für 2018 geplanten Vorsitz – 100 Jahre nach der ersten Unabhängigkeitserklärung – vorzuziehen. Das kleine baltische Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern, das erst seit 2004 EU-Mitglied und seit 2011 Teil der Wirtschafts- und Währungsunion ist, hatte sich wieder einmal uneigennützig und als europäischer Musterschüler gezeigt. Und für das kommende halbe Jahr hat das Land nun in mehr als 250 Veranstaltungen und über 1 700 Sitzungen den Vorsitz.Bei der ersten EU-Ratspräsidentschaft des Landes hat die Regierung von Ministerpräsident Jüri Ratas einiges vorzuweisen: Die Wirtschaftskrise ist längst überwunden. Für dieses Jahr wird ein solides Wachstum von 2,3 % und für 2018 sogar von 2,8 % erwartet. Drei Jahre in Folge wurde ein leichter Haushaltsüberschuss erzielt. Das für 2017 prognostizierte Defizit von 0,3 % gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist vernachlässigenswert. Und die Staatsverschuldung liegt gerade einmal bei 9,5 % des BIP – ein Traum für sämtliche anderen EU-Staaten.Besonders werden die übrigen 27 EU-Länder aber wohl die Erfolge Estlands bei der Digitalisierung unter die Lupe nehmen. Das Land, das sich auch selbst in diesem Bereich als “Vorreiter” sieht, hat nämlich in Glasfasernetze investiert und konsequent “E-Government”-Lösungen eingeführt. Das Wählen oder die Abgabe von Steuererklärungen ist online möglich. Die EU, dafür will sich Ratas einsetzen, soll die Datenfreizügigkeit als die fünfte Grundfreiheit im Binnenmarkt anerkennen. Ein “Zukunftskonzept zur Datenfreizügigkeit” gehörte jetzt zu den ersten Initiativen seiner Regierung. Auf europäischer Ebene will er sich in den nächsten Monaten ganz konkret für einen Ausbau des grenzüberschreitenden digitalen Handels und für grenzüberschreitende öffentliche digitale Dienstleistungen einsetzen.Im Bereich der Wirtschaft hat Ratas unter anderem den Themen neue Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen, dem europäischen Energiebinnenmarkt und der Verhinderung von Steuerumgehungen Priorität eingeräumt.Malta, das den Ratsvorsitz bis Ende Juni innehatte, wird in Brüssel hinter vorgehaltener Hand vorgeworfen, in dieser Zeit auch knallhart eigene Interessen durchgesetzt zu haben. Estland versteht sich dagegen ausdrücklich als ein Mittler und Moderator zwischen den nationalen Interessen. Das offizielle Motto heißt: “Einigkeit durch Gleichgewicht.” Es geht darum, Europa eine neue Balance zu geben. Dafür gibt es in Brüssel bereits zahlreich Vorschusslorbeer. “Stakeholder aus der Politik und Beobachter sind zuversichtlich, dass die estnische Ratspräsidentschaft ein Erfolg wird”, urteilen Analysten von FTI Consulting.