EU der Vorreiter und Nachzügler

Juncker greift Idee eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten neu auf

EU der Vorreiter und Nachzügler

fed Frankfurt – Angesichts der Vertrauenskrise der EU in mehreren Mitgliedstaaten gewinnt die Idee eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten prominente Fürsprecher. Erst vor drei Wochen hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, die Geschichte habe gezeigt, “dass nicht alle immer an den gleichen Integrationsstufen teilnehmen werden”. Jetzt hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nachgelegt und ebenfalls seine Sympathie für eine europäische Integration bekundet, die Vorreiter und Nachzügler zulässt. “Wir können viel mehr gemeinsame Dinge machen, aber es ist nicht die Zeit, um sich vorzustellen, dass alle die gleichen Sachen gemeinsam machen”, sagte Juncker vor Studenten der Universität im belgischen Louvain-La-Neuve. Die Frage sei doch, “ob wir zu achtundzwanzig voranschreiten wollen – wobei wir ja schon den Achtundzwanzigsten verloren haben – oder ob nicht diejenigen, die zügiger vorankommen wollen, dies tun können, ohne den anderen Zwang aufzuerlegen”.Politische Brisanz bekommen Junckers Andeutungen dadurch, dass die EU-Kommission in wenigen Tagen ein sogenanntes Weißbuch vorlegen will. Unter diesem Titel veröffentlicht sie – vergleichsweise selten – Sammlungen von Vorschlägen, wie sie in gewissen Feldern vorgehen oder bestimmte Fragen lösen möchte. Insofern sind Junckers Äußerungen der Auftakt zu umfangreicheren Sondierungen. Anlass für eine grundsätzliche Reformdebatte bietet am 25. März der 60. Jahrestag der Römischen Verträge – also der Rechtsgrundlage der Europäischen Gemeinschaften.Zwar gibt es in der EU auch heute schon unterschiedliche Geschwindigkeiten. Bei der Freizügigkeit (Schengen) fehlen Briten und Iren, beim EU-Patent sind Italien und Spanien nicht mit von der Partie. Den Euro gibt es nur in 19 der 28 EU-Staaten, und eine EU-Finanztransaktionssteuer wollen gerade einmal zehn Regierungen einführen – wenn sie denn überhaupt je kommt. Trotzdem ist die EU bisher generell auf Gleichlauf angelegt – die obigen Beispiele der ungleichzeitigen Integration bedürfen daher komplizierter Klauseln wie etwa des “Opt-out”. Was Juncker im Sinn hat, wäre daher durchaus eine radikale Wendung. Es sei an der Zeit für ein “Gebilde, das einen Kern hat und verschiedene Kreise”, erklärte Juncker. Man müsse sich “den Kontinent in konzentrischen Kreisen vorstellen”. Erneute Debatte über ESMUnterdessen gewinnt eine ganz andere europäische Reformdiskussion ebenfalls an Schwung – über einen Europäischen Währungsfonds. Dem “Spiegel” zufolge plant die Bundesregierung für künftige Krisen in der Eurozone ohne den Internationalen Währungsfonds (IWF), vielmehr ausschließlich mit einem zum Währungsfonds aufgewerteten Euro-Rettungsschirm (ESM). Diese Überlegungen hatte ESM-Chef Klaus Regling in der Vergangenheit wiederholt geäußert. Er hatte aber stets betont, dass es nur um künftige Krisen gehen könne – nicht um eine Umwidmung der laufenden Griechenland-Hilfen. Denn die Niederlande, Finnland und Deutschland bestehen kategorisch darauf, dass der IWF beim Hellas-Programm an Bord bleibt.