EU-Fiskalregeln erfordern Sonderschicht
EU-Fiskalregeln erfordern Sonderschicht
Trotz Fortschritten keine Einigung der europäischen Finanzminister – Vorstellungen im EU-Parlament weit auseinander
rec Brüssel
Bis tief in die Nacht haben sie verhandelt, dann mussten Europas Finanzminister einsehen: Es reicht nicht für die angestrebte Grundsatzeinigung über die künftigen Fiskalregeln in der Europäischen Union. Ihre Beratungen mussten sie einmal mehr vertagen. Allenthalben ist zwar von Fortschritten die Rede, doch auch davon, dass es an entscheidenden Stellen noch immer Differenzen gibt.
In Berlin und Paris war Mitte der Woche unisono von inzwischen 90-prozentiger Übereinstimmung die Rede gewesen. Nun seien es 92%, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner im Anschluss an die Nachtsitzung. Auf 95% kommt sein französischer Kollege Bruno Le Maire. Und Nadia Calviño, die zur designierten Präsidentin der EU-Förderbank EIB gekürte Verhandlungsführerin aus Spanien, sagte: „Wir sind fast am Ziel.“
Aber eben nur fast. Deswegen bleiben Restzweifel, ob sich die Finanzminister der 27 EU-Staaten wirklich zusammenraufen und eine gemeinsame Linie zum reformbedürftige Stabilitäts- und Wachstumspakt finden können. In Rede steht eine Sondersitzung des Ecofin-Rats in der Woche vor Weihnachten. Bis dahin müssen die Unterhändler Überstunden schieben. Der EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember wird das Thema nach Lage der Dinge ausklammern. Zu voll ist die Gipfelagenda bereits, zu technisch sind die offenen Parameter der Reform.
Streitpunkt Defizite
Die wesentlichen unerledigten Streitpunkte kreisen um Grenzen für die Neuverschuldung und den Umgang mit Defizitsündern. Wie bisher sollen die EU-Staaten Jahr für Jahr maximal 3% der Wirtschaftsleistung mehr ausgeben dürfen, als sie einnehmen. Neu ist die Überlegung, einen zusätzlichen Puffer einzuziehen, eine Art Sicherheitsabstand. Dadurch soll den Regierungen genügend Spielraum bleiben, um flexibel auf Wirtschaftskrisen reagieren zu können, ohne automatisch als Defizitsünder dazustehen.
Die Höhe dieses Puffers ist offen. Die Verhandlungsführer aus Spanien schlagen 1 bis 1,5% vor. Außerdem gibt es Bestrebungen, die Zinskosten für die Schuldenaufnahme künftig aus der Defizitberechnung auszuklammern. Hintergrund: Nach einem Jahrzehnt Niedrigzinsen werden die stark gestiegenen Zinsen nach und nach auf die Staatshaushalte durchschlagen.
Zinskosten rausrechnen?
Für Verfechter eines möglichst konsequenten Schuldenabbaus, darunter Finanzminister Lindner, sind derlei Rechentricks mit den Zinskosten tabu. Ebenso argwöhnisch beurteilen sie den Vorstoß, mehr Ermessensspielraum in laufenden Defizitverfahren zu schaffen. Das soll in jeder Lage Raum für staatliche Investitionen lassen. Für Kritiker passt das aber keinesfalls zu dem Grundsatz, übermäßige Defizite schleunigst auf die maximal erlaubten 3% zurückzufahren.
Mit einer Grundsatzeinigung der Finanzminister ist die Reform der Schuldenregeln längst nicht abgeschlossen. Am Montag wird sich der zuständige Ausschuss des Europaparlaments seinerseits positionieren. Anschließend müssen beide Seiten mit der EU-Kommission verhandeln. Deren Reformvorschlag sieht keine einheitlichen Vorgaben zum jährlichen Schuldenabbau vor. Darauf beharrt eine Gruppe um Lindner.
Im EU-Parlament gehen die Vorstellungen weit auseinander. „Bislang bieten die Reformvorschläge nicht im Ansatz ausreichend Spielraum für dringend notwendige Investitionen“, findet Grünen-Politiker Rasmus Andresen. „Den EU-Ländern werden in Zeiten von Armut und Wirtschaftsflaute, Klimawandel und Krieg durch irrsinnige Regeln die Hände gebunden“, kritisiert der Co-Parteivorsitzende der Linken, Martin Schirdewan. Der CSU-Finanzexperte Markus Ferber insistiert: „In einem gemeinsamen Währungsraum muss der Stabilitätsgedanke, nicht der Flexibilitätsgedanke das Leitmotiv der Haushaltspolitik sein.“
Verhandlungsführerin Nadia Calviño gibt sich auf den letzten Metern der spanischen Ratspräsidentschaft unbeirrt. Sie sprach von einer „produktiven" Nachtsitzung. Ähnlich äußerte sich EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: Es müsse die richtige Balance gefunden werden zwischen der Möglichkeit zu investieren und dem Abbau der Schuldenstände. Eine Verständigung vor dem Jahresende sei weiter möglich. „Es ist eine Sache von Tagen.“
Selbst nach einer „produktiven“ Nachtschicht sind Europas Finanzminister immer noch nicht am Ziel mit der Reform des EU-Schuldenpakts. Offen ist, ob eine Einigung bis Weihnachten erfolgt. Die wesentlichen Streitpunkte kreisen um Grenzen für die Neuverschuldung und den Umgang mit Defizitsündern.