EU noch uneins über Brexit-Aufschub

Tusk für Verlängerung bis Ende Januar, Frankreich skeptisch - Labour verliert taktischen Vorteil

EU noch uneins über Brexit-Aufschub

In der EU-27 gibt es unterschiedliche Vorstellungen über eine weitere Verlängerung der Brexit-Frist. In Großbritannien laufen bei den Parteien bereits die Vorbereitungen auf den Aufschub.ahe/bet Brüssel/London – Sowohl EU-Ratspräsident Donald Tusk als auch der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, plädieren für einen Brexit-Aufschub bis Ende Januar 2020. Tusk teilte dem britischen Premierminister Boris Johnson in einem Telefonat mit, dass er den anderen EU-Staats- und Regierungschefs den dreimonatigen Aufschub empfohlen habe – und damit die Annahme des entsprechenden Antrags von Johnson vom Wochenende.Der irische Regierungschef Leo Varadkar erklärte sich als erster damit einverstanden. Diese Frist lasse einen früheren Austritt Großbritanniens aus der EU offen, sollte der ausgehandelte Deal schon vorher in britisches Recht umgesetzt sein, hieß es in Dublin. Gebe es in der EU-27 Konsens in dieser Frage, könne die Verlängerung in einem schriftlichen Verfahren beschlossen werden, erklärte Varadkar. Sonst müsse ein weiterer EU-Gipfel einberufen werden.Gestern berieten auch die EU-Botschafter in Brüssel noch das weitere Vorgehen. In Berlin wollte sich Regierungssprecher Steffen Seibert nicht zur Länge eines möglichen Aufschubs äußern. Er betonte lediglich: “An Deutschland wird eine Verlängerung nicht scheitern.” Außenminister Heiko Maas verlangte allerdings vorher eine klare Ansage aus London und sprach davon, dass eine Verzögerung “von zwei bis drei Wochen” kein Problem sei. Skeptische Töne kamen dagegen erneut aus Frankreich. Europa-Ministerin Amélie de Montchalin verwies darauf, dass mehr Zeit das Problem nicht lösen werde. Benötigt werde eine politische Entscheidung. “Wir werden Ende der Woche sehen, ob eine rein technische Verlängerung von einigen Tagen gerechtfertigt ist.”Nach Einschätzung von National-Bank-Analyst Ekkehard Link wird die EU “aus wohlverstandenem Eigeninteresse einer weiteren Verlängerung kaum den Weg verlegen”. Link verwies in einer Analyse auf die weiter bestehenden Unsicherheiten: Johnson strebe vermutlich Neuwahlen an, um eine beschlussfähige Parlamentsmehrheit zu erreichen.In Großbritannien versuchen die Parteien, sich auf den Aufschub des Brexit vorzubereiten. Premierminister Boris Johnson traf sich am Mittwochvormittag mit Jeremy Corbyn, dem Chef der Labour-Partei und informellen Führer der Opposition. Die Zusammenkunft blieb offenbar ergebnislos. Corbyn drängte nach Labour-Angaben den Regierungschef, gemeinsam an einem neuen Zeitplan zu arbeiten, um das mit der EU ausgehandelte Brexit-Gesetz durch das Parlament zu bringen. Der alte, dicht gedrängte Zeitplan war am Dienstag im Unterhaus gescheitert, nachdem die Abgeordneten zuvor das Gesetz selbst in der zweiten Lesung akzeptiert hatten.Vor der Abstimmung vom Dienstag hatte das Regierungslager durchsickern lassen, nach einer Ablehnung des Zeitplans Neuwahlen voranzutreiben – ein letztlich vergebliches Druckmittel. Noch müssen der Ankündigung Taten folgen, und wie aussichtsreich der Vorstoß wäre, ist offen. Das britische System schreibt vor, dass Neuwahlen vom Parlament abgesegnet werden müssen; je nach Vorgehensweise durch eine einfache oder gar eine Zweidrittelmehrheit. Seit dem Spätsommer fordert Johnson Oppositionsvertreter auf, sich auf Neuwahlen einzulassen. Die Regierung hat keine Mehrheit im Unterhaus.Labour als größte Oppositionspartei ist zwar grundsätzlich für Neuwahlen, tut sich gegenwärtig mit einem Urnengang aber schwer. Seit Johnson Regierungschef ist, stimmte Labour zwei Mal gegen Neuwahlen. In den vergangenen Wochen lag dies in der Furcht begründet, Johnson könnte bei einem Wahlsieg den ungeregelten Brexit provozieren. Labour befürwortet zwar offiziell den Brexit, aber nicht den chaotischen Austritt. Parteiziel ist ein Verbleib in der EU-Zollunion, und dieses Ziel möchte die Partei bei der weiteren Verhandlung des Brexit-Gesetzes verfolgen – ein Grund, warum Johnson dies nicht durch ein Entgegenkommen beim Zeitplan unterstützen will.Während die Gefahr des No-Deal-Brexit vorläufig weitgehend gebannt ist, hat jedoch auch Labours taktische Position gelitten: Sollte es innerhalb des Brexit-Aufschubs zu Neuwahlen kommen, könnte Johnson mit starken Argumenten in den Wahlkampf ziehen – schließlich hat er ein neues Brexit-Abkommen ausgehandelt, das erstmals Erfolgschancen im Parlament hat. Labour hingegen stünde als Blockierer dar, Parteichef Jeremy Corbyn ist landesweit eine ähnlich umstrittene Figur wie Boris Johnson, und das sozialistische Parteiprogramm polarisiert.