GASTBEITRAG

Europa braucht ein Kompetenz-Konfliktgericht

Börsen-Zeitung, 9.6.2020 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dem mit den Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen angefochtenen Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors und darüber hinaus gegen das Programm zum...

Europa braucht ein Kompetenz-Konfliktgericht

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dem mit den Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen angefochtenen Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors und darüber hinaus gegen das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten des Unternehmenssektors hat eine breite Diskussion ausgelöst. Die Beschwerdeführer hielten die den Programmen zu Grunde liegenden Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB) für Ultra-vires-Akte. Die Programme verstoßen nach ihrer Auffassung gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Soweit die Programme in das Budgetrecht des Deutschen Bundestages eingriffen, liege darin auch eine Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Nicht unerwartet hat die Entscheidung größte Überraschung und Unruhe ausgelöst. Die VerhältnismäßigkeitDer zentrale Vorwurf des Bundesverfassungsgerichts geht dahin, dass der Rat der Europäischen Zentralbank bezüglich der beschlossenen Maßnahmen weder geprüft noch dargelegt habe, dass diese dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.Die inmitten stehenden Kritikpunkte, so zum Beispiel auch Demokratiedefizite im Hinblick auf die EZB, betreffen im Kern die europäische Vertragslage. Es ist deshalb geboten, die in diesem Zusammenhang relevanten Strukturen der europäischen Ebene zu betrachten und von daher über Lösungsansätze zu einem sachgerechten und sinnvollen Ausweg aus der durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschaffenen Lage nachzudenken. Zunächst entfaltet sie umfassende Bindungswirkung für die deutschen Staatsorgane, zeitigt aber unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die Organe der EU und die nach dem Austritt Großbritanniens verbliebenen 26 weiteren Mitgliedstaaten. Umgehungs- oder Vermeidungsstrategien sind wegen Rechtssicherheit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im internationalen Verkehr nicht Mittel der ersten Wahl.Zum besseren Verständnis der nachfolgend vorgestellten Lösungsansätze bedarf es einer näheren Betrachtung der vorangegangenen Entwicklung und der Grundstruktur der Europäischen Union. Die EU ist kein BundesstaatDurch die europäischen Verträge wurde über die Jahre eine in der Sache fortwährend tiefer greifende Staatenverbindung geschaffen. Die Erweiterung der Mitgliedschaften spielt insoweit keine unmittelbare Rolle. Trotzdem ist bis heute kein europäischer Bundesstaat geschaffen worden, sondern es handelt sich immer noch um eine Verbindung selbstständig und unabhängig gebliebener Staaten. Im Hinblick darauf bestehen eine die Mitgliedstaaten übergreifende Rechtsordnung auf europäischer Ebene und daneben – in den auf die EU übertragenen Bereichen darunter liegend – nationale Rechtsordnungen. Diese Rechtsordnungen sind auf beiden Ebenen getrennte und haben in Bezug auf die Auslegung des jeweiligen Rechts auch getrennte Rechtsprechungsorgane. So ist der EuGH allein und ausschließlich für Auslegung und Handhabung der europäischen Verträge zuständig und in den Mitgliedstaaten die hierzu berufenen Staatsorgane, so in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfassungsgericht. Daneben besteht noch eine weitere von den genannten Rechtsordnungen getrennte in Gestalt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte- und Grundfreiheiten mit einem eigenen Gerichtshof. Vor diesem Hintergrund sind ferner Überlegungen in Richtung eines europäischen Rechtsprechungsdreiecks ebenfalls nicht zielführend.Bei dieser Ausgangslage war es eine maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht eingeleitete Fehlentwicklung, ein Kooperationsverhältnis zwischen nationalem Verfassungsgericht und EuGH zu begründen. Übersehen wurde, dass Gerichte schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit nicht von sich aus kooperieren dürfen. So darf man die Trennlinie zwischen den beschriebenen Rechtsordnungen nicht auszuhebeln versuchen. Zum einen würde dadurch eine Kompetenz-Kompetenz in Anspruch genommen, die auch einem Verfassungsgericht nicht zukommt. Gerichte dürfen nur in den gesetzlich umschriebenen Verfahren “kooperieren”, was zudem zur Vermeidung von Willkür unabdingbar ist. Insoweit werden auf nationaler und europäischer Ebene Vorlagepflichten unter genau umschriebenen Voraussetzungen angeordnet. Der Ausschluss eines Kooperationsverhältnisses dient ferner dem Schutz des jeweils zu einer Entscheidung berufenen Rechtsprechungsorgans, weil dadurch ein Eingriff in seine Zuständigkeit durch ein dazu nicht berufenes und nicht ermächtigtes anderes Gericht von vornherein unterbunden wird. Potenzial für MissverständnisAllerdings ist in der EUV bei der strukturellen Ausgestaltung nicht alles als gelungen zu erkennen. Vielmehr sind Strukturelemente aufgenommen worden, die für eine Verbindung von selbstständig und unabhängig bleibenden Staaten nicht geeignet sind und das Potenzial zu Missverständnissen in sich bergen, was in Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 relevant geworden ist.Insoweit geht es um die Strukturelemente Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Sie sind zum Teil systemwidrig bei Gestaltung einer Staatenverbindung oder sind nicht miteinander in Einklang zu bringen. Prinzip der SubsidiaritätSo ist das Prinzip der Subsidiarität im europäischen Zusammenhang für das Handeln der europäischen Organe verfehlt. Die Subsidiarität ist auf nationaler Ebene eines jeden Mitgliedstaates unter dem Gesichtspunkt relevant, dass wegen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung ein Gegenstand von der nationalen auf die europäische Ebene nur übertragen werden darf, wenn auf der nationalen Ebene die Erfüllung einer staatlichen Aufgabe nicht effektiv wahrgenommen werden kann. Die Prüfung der Subsidiarität steht also vor der Entscheidung, ob eine Übertragung statthaft ist; sie kann keineswegs als nachlaufende Kompetenzausübungsschranke in Stellung gebracht werden, weil alle Argumente hiergegen mit der Übertragung aus der Hand gegeben wurden. Problem der ZentralbankÄhnlich verhält es sich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser ist im Staatsorganisationsrecht und auch dementsprechend bei der Gestaltung einer Staatenverbindung fehl am Platze. Die Frage der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen ist im Über/Unter-Ordnungsverhältnis für die Ausübung von Hoheitsgewalt gegenüber den Adressaten angesiedelt. Stattdessen – gleichsam ein Äquivalent – greift hier im inneren staatlichen Bereich etwa der Grundsatz des bund-/länderfreundlichen Verhaltens ein, wie sich in Deutschland aktuell bei der Bewältigung der Coronakrise gezeigt hat – schonende und ausgleichende Wahrnehmung der wechselseitigen Zuständigkeiten von Bund Ländern.Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung hat im europäischen System in Bezug auf die EZB und die ihr eröffneten Handlungsinstrumente zur Bewältigung der finanziellen Probleme innerhalb der EU eine besondere Bedeutung, die so noch nicht in ihrer gesamten Tragweite gesehen und deshalb zwangsläufig auch nicht sachgerecht geregelt wurde.Die EU ist noch kein Bundesstaat und es ist deshalb konstruktiv verfehlt, eine Zentralbank einzurichten mit umfassenden finanzpolitischen Befugnissen entsprechend den Zentralbanken auf nationaler Ebene. Das folgt aus dem Umstand der begrenzten Einzelermächtigung, auch wenn diese inzwischen durch eine umfangreichere Bündelung über zahlreiche Zuständigkeiten verfügt. Es ist denkgesetzlich ausgeschlossen, die Auswirkungen einer nicht eingehegten finanzpolitischen Ermächtigung bereichsspezifisch beschränken zu können. Die Handlungsmöglichkeiten der EZB ergreifen die gesamte europäische Rechtsordnung und die in ihr angesiedelten Zuständigkeitsbereiche. Die Überlegung und die Frage danach, ob diese oder jene Maßnahme noch im finanzpolitischen Rahmen angesiedelt ist oder in andere der EU nicht übertragene Bereiche übergreift, führen nicht weiter. Die vorliegend umstrittene Null-Zins-Politik ist für hoch verschuldete Mitgliedstaaten in einem bestimmten Maße sicher komfortabel, gestaltet aber mit ganz nachhaltiger Wirkung die Gesellschaften in den Staaten um, weil sie die Masse der Sparer trifft, die über ihr Sparvermögen solide und ohne spekulative Tendenzen für die Altersversorgung einen gesicherten Beitrag erarbeiten wollten. Diese Wirkung der Finanzpolitik ist ein der EU verschlossener Bereich und deshalb darf die EZB keine Maßnahme treffen, die zentral diese Folge nach sich zieht. Eine politische EntscheidungInsoweit führt die geforderte Abwägung schon allein in Bezug auf dieses Abwägungselement nicht weiter. Diese fußt auf einem wesentlichen Element des Fachplanungsrechts (z. B. Straßen, Wasserwege, Eisenbahnlinien). Dort geht es um die Definition und Abgrenzung von öffentlichen und privaten Belangen. Diese müssen ermittelt, bewertet, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Nur: Wer ist im vorliegenden Zusammenhang für die Prüfung und letztlich für die “Absegnung” zuständig?Bei der hier in Rede stehenden Problematik handelt es sich zudem im Kern um eine politische Entscheidung, die in den Verantwortungsbereich von Regierung und Parlament fällt. Das ist kein Glasperlenspiel, sondern hat elementare Auswirkungen. Bei solchen politischen Entscheidungen kann rechtsstaatlich-demokratisch schon ein Element so gewichtet werden, dass es alle anderen überlagert und deshalb hingenommen werden muss. Sonach führt die angeordnete Begründungspflicht nicht weiter und löst mangels Vollstreckbarkeit kein Problem. EuGH nicht abqualifizierenInsoweit wird eine weitere Schwäche des Ansatzes über Art. 38 GG offenbar. Diese Bestimmung gewährleistet ein formales Recht. Es vermittelt aber keine materiell-rechtliche Position, was den Inhalt der umstrittenen Maßnahme der EZB (aber auch in anderen Fällen) betrifft. Sachgerecht und einen Konflikt mit dem EuGH vermeidend ist in Anlehnung an eine frühe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Konstruktion der Elfes-Entscheidung im 6. Band. Es bedarf nicht der “Abqualifizierung” des EuGH, wenn man dessen Auffassung missbilligt. Diese kann zu Grunde gelegt werden und dann ist unter strikter Beachtung der getrennten europäischen und nationalen Verfassungsrechtsordnung schlicht zu fragen, ob sich die Bundesrepublik Deutschland so an der europäischen Integration beteiligen dürfe. Diese Frage wird ohne Angriff auf die europäische Rechtsordnung allein nach deutschem Verfassungsrecht beantwortet. Die Antwort kann allerdings für jeden Mitgliedstaat anders ausfallen und deshalb ist Diskretion und Zurückhaltung angezeigt.Allerdings führen diese Überlegungen zu Lösungswegen, die der eingegangenen Staatenverbindung systemgemäß sind, schonend mit den europäischen Organen und den anderen Mitgliedstaaten “umgehen” und den allgemein anerkannten rechtsstaatlich-demokratischen Anforderungen gerecht werden. Weckruf aus KarlsruheZunächst ist daran zu denken, ein Kompetenz-Konfliktgericht der Mitgliedstaaten zu den Fragen einzurichten, ob eine Zuständigkeit und gegebenenfalls in welchem Umfang auf die europäische Ebene übertragen ist. Ein solches Kompetenz-Konfliktgericht könnte auch die Problematik der Ultra-vires-Konstruktion allgemein verbindlich für die Union klären. Zudem ist es unausweichlich, die Stellung und die Handlungsinstrumente der EZB näher zu umschreiben und einen verbindlichen Handlungsrahmen zu formulieren. Nur so können die Stellung und Funktion der EZB und der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung in Deckungsgleichheit gebracht werden und damit das Gebot der Rechtssicherheit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit in der europäischen Rechtsordnung erfüllt werden.Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 trifft mit seinem Weckruf einen günstigen Zeitpunkt; denn die in erster Linie geforderte Bundesrepublik Deutschland übernimmt zum 1. Juli 2020 die Ratspräsidentschaft und kann so ungehindert die Initiative ergreifen. Siegfried Broß, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. (1998-2010)