Europa wird von zweiter Welle erfasst

Überall verschärfen Regierungen wieder nationale Maßnahmen - Erneute Grenzkontrollen kein Tabu mehr

Europa wird von zweiter Welle erfasst

In ganz Europa werden rasant steigende Corona-Neuinfektionen registriert. In allen EU-Ländern erwägen die Regierungen zum Teil wieder drastische Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Selbst erneute Kontrollen an den Landesgrenzen sind kein Tabu. Ein einheitliches europäisches Vorgehen gibt es nicht.ahe/bl/hip//wü/sp Frankfurt – Europa steckt am Anfang und mancherorts schon mitten drin in einer zweiten Corona-Infektionswelle. Länder wie Frankreich, Italien und Großbritannien bereiten neue Einschränkungen vor. In Polen wurde am Wochenende über die Ausrufung eines nationalen Notstands beraten, und auch in Tschechien, dem Land mit den meisten Neuinfizierten gemessen an der Bevölkerung, werden nun verschärfte Coronaregeln erwogen. In Deutschland wurden zum Wochenauftakt mit 2 467 Fällen zwar sinkende Neuinfektionszahlen gemeldet, was allerdings vor allem auf Verzögerungen wegen des Wochenendes zurückzuführen sein dürfte.”Die Lage ist ernst”, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Deutschland sei am Beginn der zweiten Welle. Teilweise gebe es bereits wieder mehr schwer verlaufende Fälle, in denen auch die Intensivstationen der Krankenhäuser genutzt werden müssten. Mit Köln, Stuttgart, Essen und Mainz meldeten weitere Städte das Überschreiten der Marke von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Großstädte wie Berlin, Frankfurt und Bremen waren schon zuvor über die Marke gesprungen.Die Neuinfektionszahlen im europäischen Ausland steigen teilweise noch deutlich schneller, weshalb das Innenministerium auch wieder über die Möglichkeit von verschärften Grenzkontrollen zu den Nachbarländern nachdenkt. “Alle in der Bundesregierung sind sich darüber einig: Jetzt ist die Zeit, in der sich entscheidet, ob wir uns erfolgreich gegen diese Entwicklung stemmen können oder ob uns die Zahlen in Richtung Winter und Weihnachten davonlaufen”, sagte Seibert nach den Beratungen im Corona-Kabinett.Kritik gibt es weiter an den Beherbergungsverboten vieler Länder für Urlauber aus deutschen Risikogebieten. Zahlreiche Politiker fordern eine Rücknahme der erst in der vergangenen Woche vereinbarten Regelung. Der Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) in Brandenburg prüft juristische Schritte gegen ein coronabedingtes Beherbergungsverbot. “Flickenteppich Europa”Auch in der EU mehren sich die Sorgen angesichts der europaweit steigenden Neuinfektionen. “Wir sind noch nicht aus dem Gröbsten heraus, sondern sind im Gegenteil noch immer mitten beim Feuerlöschen”, betonte EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis auf einer Interparlamentarischen Konferenz (siehe unten stehenden Bericht).Die EU-Staaten haben sich zwar auf eine einheitliche Corona-Warnampel verständigt. Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini kritisierte jedoch, diese komme zu spät und schaffe mehr Verwirrung als Klarheit. Die Entscheidung über Einreisebeschränkungen liege weiter bei den Mitgliedstaaten. Auch für Tests und Quarantäne gelten unterschiedliche Bestimmungen. “Europa bleibt ein Flickenteppich”, sagte Cavazzini. Der Vorstoß von EU-Kommission und Infektionsschutzbehörde ECDC sei “bis zur Unkenntlichkeit” verwässert worden.Großbritanniens Premierminister Boris Johnson verhängte gestern strenge Ausgangsbeschränkungen über Liverpool, die künftig auch in anderen Landesteilen gelten sollen, in denen die Zahl der Infektionen stark steigt. Die Übertragungsrate R bewegt sich ihm zufolge in England aktuell zwischen 1,2 und 1,5. Zwar sagte Johnson, ein erneuter landesweiter Lockdown wäre “nicht der richtige Weg”. Doch werden in Liverpool nicht nur Restaurants, Pubs, Fitnessstudios und öffentliche Sporteinrichtungen geschlossen. Mitglieder verschiedener Haushalte sollen nicht zusammenkommen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, auf nicht unbedingt notwendige Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verzichten und die Region nicht zu verlassen.Auch Frankreichs Premierminister Jean Castex hat die Bevölkerung auf strenge, lokal begrenzte Ausgangssperren eingestimmt. “Wenn man die Situation in unseren Krankenhäusern sieht, darf nichts ausgeschlossen werden”, sagte er dem Radiosender France Info am Montag. Es müsse jedoch alles getan werden, um eine landesweite, strenge Ausgangssperre wie im Frühjahr zu verhindern. Castex will während eines Verteidigungsrates am Mittwoch entscheiden, ob die bereits in mehreren Großstädten verhängten Beschränkungen weiter verschärft werden müssen.Präsident Emmanuel Macron will sich am Mittwochabend in einer Fernsehansprache zu der zweiten Coronawelle äußern. Frankreich meldete am Samstag 27 000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden, am Sonntag dann 16 000. Die Behörden haben am Wochenende auch für Montpellier und Toulouse die höchste Alarmstufe ausgerufen, die bereits in Paris, Aix-Marseille, Grenoble, Guadeloupe, Lille, Lyon und Saint-Etienne gilt. Dort müssen Bars und Cafés vorübergehend geschlossen bleiben.Die neue belgische Regierung hatte bereits in der vergangenen Woche verschärfte Maßnahmen verkündet. Im Risikogebiet Brüssel sind Bars und Cafés auch für die nächsten vier Wochen geschlossen.Angesichts steigender Neuinfektionen plant auch Italiens Regierung eine erneute Verschärfung bestehender Maßnahmen. So sollen private und öffentliche Feiern in größerem Kreis verboten werden, Lokale um spätestens 24 Uhr schließen müssen und der Alkoholverkauf im Freien um 22 Uhr beendet werden.Bereits seit vergangener Woche besteht eine allgemeine Maskenpflicht auch im Freien, außer beim Radfahren und Joggen. Einschränkungen gibt es auch bei “Kontaktsportarten” im Amateurbereich. Gleichzeitig wurde die Quarantäne nach einem positiven Test auf zehn Tage reduziert. Statt bisher zwei oder drei negative Tests braucht es künftig nur noch einen für die Beendigung einer Quarantäne. Mit rund 5 000 Neuansteckungen pro Tag weist Italien derzeit aber wesentlich weniger Fälle auf als die meisten anderen europäischen Länder. Bericht zu IschglWährend Premierminister Giuseppe Conte einen neuen, allgemeinen Lockdown zumindest vorerst ausschloss, erwägen einzelne Regionen oder Städte verschärfte Maßnahmen – unter anderem Mailand. Auch Venetien, die Region um Neapel, Apulien und Latium sind neue Hotspots in Italien.Nach dem massiven Ausbruch des Coronavirus im Tiroler Skiort Ischgl im vergangenen Winter hat nun eine Expertenkommission Versäumnisse der lokalen Behörden aufgezeigt. So hätte etwa der Betrieb von Skibussen und Seilbahnen früher eingestellt werden müssen, kommt das unabhängige Expertenteam in seinem Bericht zum Schluss. Aber auch die Regierungsspitze in Wien steht in der Kritik. Die Ankündigung der Quarantäne über das Paznauntal und St. Anton durch Kanzler Sebastian Kurz am 13. März sei “überraschend, ohne unmittelbare Zuständigkeit und ohne Vorbereitung” erfolgt. In Ischgl, das als Ski-Partyhochburg bekannt ist, hatten sich rund 11 000 Menschen infiziert und das Virus dann in ganz Europa verbreitet. – Im Blickfeld Seite 6