LEITARTIKEL

Europas nächster Stresstest

Die guten Nachrichten vorneweg: Erstens hat die Europäische Union im nun zu Ende gehenden Jahr aufs Neue gezeigt, dass sie Krisenmanagement kann. Erstaunlich schnell ist es ihr gelungen, bemerkenswert große Hilfen zu mobilisieren, um die...

Europas nächster Stresstest

Die guten Nachrichten vorneweg: Erstens hat die Europäische Union im nun zu Ende gehenden Jahr aufs Neue gezeigt, dass sie Krisenmanagement kann. Erstaunlich schnell ist es ihr gelungen, bemerkenswert große Hilfen zu mobilisieren, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. Zweitens ist es der EU schlussendlich doch noch gelungen, einen “No Deal” mit dem Vereinigten Königreich abzuwenden – und damit einen jähen Bruch ohne jedwede Abfederung zu verhindern. Drittens, und das ist vielleicht die beachtlichste Leistung der Staatengemeinschaft, hat sie sich im Laufe der zähen Verhandlungen mit Großbritannien nicht auseinanderdividieren lassen – anders als es sich gewiss mancher Brexiteer vor vier Jahren ausgemalt hatte. Der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU hat weder in den Niederlanden noch in anderen EU-Staaten als Katalysator für zentrifugale Kräfte gewirkt. Und auch die Stimmen der radikalsten Europakritiker sind in den vergangenen Jahren leiser geworden. Der Brexit scheint also eher abschreckende Wirkung zu entfalten.Das freilich bedeutet noch lange nicht, dass sich die Europäische Union zum Jahreswechsel 2020/2021 in gutem Zustand befindet. Die EU mag das Schlimmste verhindert haben. Aber Brexit und Corona setzen der Union trotzdem schwer zu. Denn mit dem Abschied der Briten hat die EU ein Sechstel ihrer Wirtschaftskraft eingebüßt, was ihre Position als Wirtschaftsblock in Verhandlungen mit den ökonomischen Schwergewichten der Welt empfindlich beeinträchtigt. Zugleich ist die Vorstellung, dass die Unternehmen diesseits und jenseits des Ärmelkanals ihre Geschäftsbeziehungen auf Basis des in letzter Minute verabredeten Deals weitgehend störungsfrei fortsetzen können, allenfalls ein Hoffnungswert. Wenn es richtig ist, dass die Industrie, wie es von deren Vertretern oft betont wurde, unter nichttarifären Hemmnissen stärker ächzt als unter Zöllen, dann dürfte der Handel zwischen Insel und Kontinent künftig erheblich leiden. Wenn es zudem so ist, dass Rechtssicherheit zu den entscheidenden Voraussetzungen für florierende grenzüberschreitende Finanzdienstleistungen zählt, ist es mehr als zweifelhaft, ob sich diese Transaktionen noch dynamisch entwickeln, wenn der Rechtsrahmen für Geldgeschäfte zwischen EU und UK nicht mehr durch den Europäischen Pass gesichert ist, sondern nur noch durch das fragilere Äquivalenzprinzip. Und wenn sich bewahrheiten sollte, dass es den Briten durch den Ausstieg vor allem um die Rückerlangung ihrer Souveränität und Selbstbestimmtheit geht, ist es fraglich, ob sich beide Seiten nicht schon bald regulatorisch voneinander entfernen – obwohl vieles im jetzt vereinbarten Abkommen eigentlich nur funktionieren kann, solange sich die Partner darum bemühen, in die gleiche Richtung zu marschieren. Kurzum: Die Tauglichkeitsprüfung dessen, was an Heiligabend vereinbart wurde, steht noch aus. Das Risiko, dass sowohl Britannien als auch seine früheren EU-Partner herbe ökonomische Einbußen erleiden, ist trotz des Deals nicht gebannt.Nun wären diese wirtschaftlichen Beeinträchtigungen gewiss zu schultern, wären Europas Volkswirtschaften nicht gleichzeitig mit der riesigen Herausforderung konfrontiert, die dramatischen ökonomischen Folgen der Pandemie zu verdauen. Die Prognosen verheißen nichts Gutes. Zwar stehen die Zeichen in ganz Europa nach dem jähen Absturz in den Lockdown auf konjunkturelle Erholung. Aber da Länder im Süden – Spanien, Portugal, Italien, Griechenland und Frankreich – 2020 deutlich stärker abgerutscht sind als ihre nördlichen Nachbarn, werden sie auch länger brauchen, um sich wieder zu erholen. Zudem drohen die Volumina leistungsgestörter Kredite, die seit Jahren Fortschritte eines Finanzbinnenmarkts und einer engeren Bankenunion bremsen, in die Höhe zu schießen – und das aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem in den ohnehin von faulen Krediten besonders geplagten mediterranen Volkswirtschaften.——Von Detlef FechtnerDie Europäische Union befindet sich in keinem guten Zustand. Die EU mag das Schlimmste verhindert haben. Aber Brexit und Corona setzen ihr schwer zu.——