GASTBEITRAG

EZB auf dem Weg in die monetäre Staatsfinanzierung?

Börsen-Zeitung, 29.10.2020 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020 zum Ankauf von Staatsanleihen (Public Sector Purchase Programme, PSPP) durch das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) schlug hohe Wellen. Indessen...

EZB auf dem Weg in die monetäre Staatsfinanzierung?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020 zum Ankauf von Staatsanleihen (Public Sector Purchase Programme, PSPP) durch das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) schlug hohe Wellen. Indessen sind die Ausläufer dieser Wellen nur vermeintlich abgeebbt. Während die EU-Mitgliedstaaten weiterhin versuchen, die fiskalischen Hilfen des 750 Mrd. Euro schweren, kreditfinanzierten Sonderhaushaltes “Next Generation EU” (NGEU) unter Dach und Fach zu bringen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) neben dem bestehenden PSPP-Programm zeitnah mit Maßnahmen reagiert. Zum einen tätigt sie zusätzlich Nettoankäufe von Vermögenswerten in Höhe von 120 Mrd. Euro, zum anderen wurde das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) in Höhe von derzeit 1 350 Mrd. Euro – mit Aussicht auf Ausweitung – aufgelegt. Darüber hinaus wurden Sicherheitsanforderungen gelockert, so dass zukünftig auch griechische Staatsschuldtitel aufgekauft werden können. Beachtliche AusmaßeDoch selbst ohne diese Sondermaßnahmen hat das im Jahr 2015 aufgelegte PSPP-Programm mittlerweile beachtliche Ausmaße angenommen. Mit Ablauf des Jahres 2019 entsprachen die PSPP-Ankäufe 16,5 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der gesamten Eurozone. Inklusive supranationaler Anleihen – zum Beispiel des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) – beträgt der Anteil 18,5 %. Das Eurosystem hielt zur Mitte dieses Jahres 19,2 % der gesamten Staatsschulden in der Eurozone. Unter Berücksichtigung der von supranationalen Emittenten angekauften Anleihen steigt diese Quote auf 21,5 %. Für die Jahre 2015 bis 2019 stellten die kumulierten PSPP-Staatsanleihekäufe darüber hinaus eine 3,3-fache Abdeckung der aggregierten Eurozonen-Haushaltsdefizite dar. Theoretisch hätten sich über diesen Zeitraum insbesondere die Länder mit großen Haushaltsdefiziten allein durch die PSPP-Ankäufe refinanzieren können – Italien 1,9-fach, Spanien 1,3-fach und Frankreich 1,2-fach. Aktuell hat das PSPP-Programm einen Umfang von 2 405 Mrd. Euro, darunter 255 Mrd. Euro supranationale Anleihen. Die Bilanzsumme des Eurosystems ist damit zu rund 40 % durch PSPP-Ankäufe entstanden.Das PSPP-Urteil des BVerfG beruht auf juristischer Ableitung. Der inhaltliche Hintergrund besteht allerdings aus ökonomischen Fakten und Zusammenhängen. Diese werfen hinsichtlich der in Rede stehenden monetären Staatsfinanzierung jedoch einige Fragen auf. Einen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 Abs. 1 AEUV) sieht das Gericht bei den PSPP-Ankäufen zwar nicht. Allerdings knüpft es diese Aussage an verschiedene einzuhaltende Bedingungen. So muss eine Ankaufobergrenze von 33 % je Anleihe und Emittent eingehalten werden, um nicht als marktmächtiger Akteur zinsbeeinflussend wirken zu können. Dem Grundsatz des einheitlichen Währungsraumes folgend müssen die Ankäufe zudem nach dem EZB-Kapitalschlüssel verteilt getätigt werden. Diese beiden Bedingungen “sind insoweit die entscheidenden ,Garantien’, an denen sich die mangelnde Offensichtlichkeit eines Verstoßes gegen das Umgehungsverbot aus Art. 123 AEUV festmachen lässt” (BVerfG 2 BvR 859/15).Verwendet man jedoch die aktuelle Portfoliostruktur des ESZB als Indikator, so besteht gemäß einer kürzlich von uns veröffentlichten Studie eine länderspezifisch teils merkliche Abweichung vom Richtwert “EZB-Kapitalanteil”. Betrachtet man die nach PSPP-Anteilen fünf größten Länder (insgesamt 86 % ausmachend), so wurden übermäßig viele Staatsanleihen gekauft von Italien (Abweichung um 9,8 %, entsprechend 36,8 Mrd. Euro), Spanien (8,2 %, 21,6 Mrd. Euro) und Frankreich (7,6 %, 34,1 Mrd. Euro), während zu wenige von den Niederlanden (minus 11,7 %, minus 15,1 Mrd. Euro) und Deutschland (minus 4,5 %, minus 26,4 Mrd. Euro) erworben wurden. Darüber hinaus herrscht zu einem Teil der Ankäufe der nationalen Zentralbanken auf eigene Rechnung – den ANFA-Ankäufen – Intransparenz, so dass die 33-Prozent-Obergrenze öffentlich schlechterdings nicht überprüfbar ist.Der EZB-Beschluss zum neuen PEPP-Programm fasst die oben genannten Bedingungen entweder gar nicht (33 % Ankaufobergrenze) oder wesentlich weicher (Einhaltung des EZB-Kapitalschlüssels). Diese zusätzliche Flexibilität spiegelt sich aktuell auch in den PEPP-Beständen für die anteilig bedeutendsten Länder (insgesamt 82 % ausmachend) wider. Verglichen mit den EZB-Kapitalanteilen wurden überproportional viele Staatspapiere erworben von Italien (Abweichung um 17,3 %, entsprechend 14,1 Mrd. Euro) und Spanien (7,1 %, 4,1 Mrd. Euro), während zu wenige von Frankreich (minus 13,7 %, minus 13,4 Mrd. Euro), Deutschland (minus 0,7 %, minus 0,9 Mrd. Euro) und den Niederlanden (minus 0,7 %, minus 0,2 Mrd. Euro) gekauft wurden. Neue Ideen im EZB-RatIm Zuge einer aktuell laufenden Überprüfung der PEPP-Wirkung durch die EZB gibt es neben Erwägungen zur Aufstockung nun scheinbar auch Überlegungen, die “großzügigeren Beinfreiheiten” des PEPP auch auf das PSPP zu übertragen oder gleich beide Programme zusammenzuführen. Das dürfte aber den durch das BVerfG hervorgehobenen Garantien für die Einhaltung des Verbots einer monetären Staatsfinanzierung offenkundig zuwiderlaufen. Auf dieser Linie mahnt die Deutsche Bundesbank eine Korrektur der PEPP-Bestände hin zum EZB-Kapitalschlüssel an, um die Einheitlichkeit der Geldpolitik im Euroraum nicht zu gefährden und um fiskalische Fehlanreize möglichst gering zu halten. “Corona-Super-Bazooka”Theoretisch wäre zukünftig sogar eine Art “Corona-Super-Bazooka” denkbar – ein Zusammenspiel aus dem EU-Aufbauprogramm NGEU und den ESZB-Anleihekaufprogrammen: Im Rahmen der PSPP- und PEPP-Ankäufe könnten die EU und das ESZB Euro-Hilfen als fiskalisch-monetär kombinierten Rettungsschirm ermöglichen. Für diese EU-Anleihen bestünde, auch bei im Regelfall kurzfristiger Zwischenstation über das Geschäftsbankensystem, praktisch eine gesicherte Abnahme durch das ESZB. Die Anleihezinsen würden über die Verteilung der monetären Einkünfte an die nationalen Zentralbanken (Art. 32 f ESZB-Satzung), beziehungsweise deren nationale Haushalte, zurückfließen. Diese Konstruktion gleicht einem “Kreditkarussell”: Die Krisenstaaten erhalten durch NGEU indirekt Kredit über das Bankensystem, welches sich wiederum über das ESZB refinanziert.Ähnlich – nur direkter – liefen die Notkreisläufe zwischen der nationalen Zentralbank, dem heimischen Geschäftsbankensystem und dem jeweiligen Staat im Fall Griechenland (2012 sowie 2014/2015) und Zypern (2013). Allerdings handelte es sich damals um eine Notfall-Liquidität (Emergency Liquidity Assistance, ELA), bei der das Eurosystem der nationalen Zentralbank bei mangelnden Sicherheiten den Ankauf von Staatspapieren auf eigene Rechnung und Risiko gestattete. Ein Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung dürfte durch die ungleichgewichteten Kredithilfen an Euro-Staaten sogar noch eher gegeben sein als bei den vom BVerfG untersuchten PSPP-Ankäufen.Aber schon jetzt fungieren die bestehenden Ankaufprogramme sowohl operativ (PSPP) als auch konzeptionell (PEPP) als Ersatz für fiskalische Rettungshilfen. Diese Rolle der EZB als Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten verursacht weitere Wellen, wodurch die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung fortschreitend verschwimmt. Dirk Meyer, Professor für Volkswirtschaftslehre, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg und Arne Hansen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg