EZB heizt Zinsdebatte an
Zentralbanker weltweit debattieren über die Höhe des sogenannten natürlichen Zinses – und mögliche Implikationen für die Geldpolitik. Nun mischt auch die EZB mit. Ein Arbeitspapier sieht einen gesunkenen und womöglich negativen Gleichgewichtszins in Euroland. Das könnte weitreichende Folgen haben.ms Frankfurt – Die Europäische Zentralbank (EZB) heizt die Debatte über den sogenannten natürlichen Zins und daraus resultierende Folgen für die Geldpolitik an – mit möglichen Implikationen für die mittel- und langfristige Strategie der Euro-Hüter, aber womöglich auch mit Folgen für den kurzfristigeren Zinsausblick. In einem gestern veröffentlichten EZB-Arbeitspapier argumentieren die Autoren, dass der natürliche Zins seit Jahrzehnten sinke und vieles dafür spreche, dass er im Euroraum aktuell sogar negativ sei. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB künftig häufiger zu unkonventionellen Instrumenten wie breiten Anleihekäufen greifen müsse. Zudem dürfte ein solcher Befund die Euro-Hüter darin bestärken, mit Zinserhöhungen sehr vorsichtig zu sein. Große UnsicherheitDer natürliche Zins wird vielfach definiert als der Zins, bei dem der Gütermarkt im Gleichgewicht und das Preisniveau stabil sind. Entsprechend ist auch häufig die Rede vom Gleichgewichtszins oder dem neutralen Zins. Dieser Satz kann aber nicht gemessen oder berechnet werden, sondern wird geschätzt. Für die Zentralbanken weltweit ist die Analyse des natürlichen Zinses seit jeher von großer Bedeutung – nicht zuletzt als Referenzmaßstab für die Ausrichtung der Geldpolitik, ob diese also eher expansiv oder restriktiv auf die Realwirtschaft wirkt.In den vergangenen Jahren hat die Debatte indes noch einmal rasant Fahrt aufgenommen (vgl. u. a. BZ vom 23. August). Zahlreiche prominente Ökonomen und auch Notenbanker argumentieren, dass der natürliche Zins deutlich gesunken sei. Nicht zuletzt der einflussreiche US-Notenbanker John Williams plädiert deshalb für eine Debatte über eine Anhebung des verbreiteten Inflationsziels von 2 % – um mehr Zinssenkungsspielraum bei einer Rezession zu haben. Zudem heißt es immer wieder, die aktuelle Geldpolitik sei deshalb trotz teils sogar Null- und Negativzinsen und trotz beispielloser Anleihekaufprogramme gar nicht so expansiv wie gedacht. Die Euro-Hüter dürften Anfang 2019 intensiver über mögliche Zinserhöhungen in der Zukunft diskutieren.Die Bundesbank ihrerseits hatte dagegen Ende 2017 vor voreiligen Schlüssen über einen Rückgang des natürlichen Zinses gewarnt und noch mehr davor, entsprechenden Einschätzungen in der geldpolitischen Debatte zu große Bedeutung beizumessen. Es gebe ein erhebliches Ausmaß an Schätzunsicherheit, so die Bundesbankexperten.Das EZB-Arbeitspapier, das die Arbeit einer entsprechenden Expertengruppe zusammenfasst, räumt zwar auch ein, dass die Schätzungen sehr unsicher und stark abhängig von Modellannahmen seien. Die meisten deuteten aber auf einen deutlichen Rückgang seit den 1980er Jahren hin. Grund seien ein geringeres Trendwachstum und demografische Faktoren. Nach der Weltfinanzkrise hätten dann eine erhöhte Risikoaversion und eine “Flucht in Sicherheit” zu einem weiteren Rückgang beigetragen. Bemerkenswert sei, dass die meisten Modelle für den Euroraum einen aktuell negativen Gleichgewichtszins schätzten (siehe Grafik).Durch den Rückgang des natürlichen Zinses gebe es für die Zentralbanken weltweit und damit auch für die EZB ein erhöhtes Risiko, an die effektive Zinsuntergrenze zu stoßen. Um dennoch die Effektivität der Geldpolitik zu sichern, würden zwei Optionen diskutiert, so die Experten: Änderungen in der geldpolitischen Strategie, vor allem ein höheres Inflationsziel, oder den Einsatz unkonventioneller Instrumente. Der Bericht legt sich nicht fest. Er lässt aber erkennen, dass nach Ansicht der Autoren eine Anhebung des Inflationsziels nicht die richtige Lösung ist und im Notfall unkonventionelle Instrumente genutzt werden sollten.Da die Faktoren, die den natürlichen Zins drücken, nicht von den Zentralbanken beeinflusst werden könnten, sehen die Experten die Politik in der Pflicht. Es brauche Strukturreformen, etwa in Form höhere Renteneintrittsalter. Es gelte auch, die Produktivität zu erhöhen. Die Regierungen könnten zudem mit ihrer Entscheidungen über die Bildung von Ersparnissen Einfluss üben.