IM INTERVIEW: OLLI REHN

EZB verharrt wegen Pandemie in Alarmbereitschaft

Börsen-Zeitung, 31.12.2020

Herr Rehn, wenn wir das Jahr 2020 unter die Überschrift stellen: "Die Pandemie und die große Wirtschaftskrise" - welche Schlagzeile erwarten Sie für 2021, oder worauf hoffen Sie? Hm ... "Weiter...

EZB verharrt wegen Pandemie in Alarmbereitschaft

Herr Rehn, wenn wir das Jahr 2020 unter die Überschrift stellen: “Die Pandemie und die große Wirtschaftskrise” – welche Schlagzeile erwarten Sie für 2021, oder worauf hoffen Sie?Hm … “Weiter Brücken bauen über unruhige Gewässer, aber im Laufe des Jahres das Licht sehend”? Aber das ist vielleicht ein wenig lang für eine Schlagzeile … “Überwindung der Pandemie und wirtschaftliche Erholung” wäre Ihnen zu optimistisch?Vieles hängt davon ab, ob es gelingt, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. In der EZB erwarten wir aber, dass das im Laufe des Jahres gelingt. 2021 wird dann eine wirtschaftliche Erholung beginnen, die sich 2022 noch verstärkt. “Die Krise eindämmen und den Aufschwung einleiten” – das wäre wohl eine bessere Kurzfassung meiner Schlagzeile. Sie gehen also mit einem gewissen Optimismus ins neue Jahr?Entscheidend ist, dass die Impfstoffe effektiv sind und es gelingt, sie rasch zu verteilen. In Europa sollte die Impfung in der ersten Hälfte des Jahres 2021 weit fortgeschritten sein, so dass die breite Bevölkerung bis Ende des Jahres geimpft wäre. Diese Annahme liegt auch dem EZB-Basisszenario zugrunde. Und dann kann auch die Wirtschaft durchstarten?Die wirtschaftliche Erholung startet wegen der zweiten Covid-19-Infektionswelle etwas später als zunächst gedacht – aber sie kommt. Die Erholung ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Die Wirtschaft wird 2021 zunehmend auf die Beine kommen und 2022 weiter Boden gutmachen. Befürchten Sie denn, dass es im Winterhalbjahr erst noch einmal zur Rezession kommt? Im vierten Quartal zeichnet sich wegen des Lockdown 2.0 ein Rückgang der Wirtschaftsleistung ab. Droht also eine Double-Dip-Rezession?Für das erste Quartal 2021 gehen wir von nahezu Nullwachstum aus. Eine Double-Dip-Rezession kann also hoffentlich vermieden werden. Aber keine Frage: Wir stehen kurzfristig noch einmal vor einer sehr schwierigen Phase. Der Winter und der Frühling werden sehr hart, und sie bergen ernsthafte Gefahren für die öffentliche Gesundheit und die Volkswirtschaften. Aber danach hellt sich der Ausblick durch die Aussicht auf Impfstoffe merklich auf. Kurzfristig aber hat sich nicht zuletzt in Deutschland die Krise erneut zugespitzt. Wie groß ist Ihre Sorge speziell mit Blick auf die größte Euro-Volkswirtschaft?Ich sehe die Situation in Deutschland mit der gleichen großen Sorge wie jene in Finnland und andernorts. Natürlich gibt es von Land zu Land gewisse Unterschiede bei den Covid-19-Infektionen. Aber wir sitzen in Europa alle im selben Boot. Es gibt überall eine zweite Welle und neue Restriktionen. Die Wirtschaft wird dieser zweiten Welle kurzfristig Tribut zollen müssen. Aber mit rigorosen kurzfristigen Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und einem vernünftigen Verhalten der Menschen können wir die Pandemie eindämmen und so den Schaden für die Wirtschaft begrenzen. Wenn die Krise länger anhält und die Erholung später kommt, steigt aber auch das Risiko, dass es zu dauerhaften Schäden kommt?Es ist immer ein Risiko, dass eine Krise längerfristige Narben hinterlässt. Je länger jetzt die wirtschaftliche Krise anhält, desto größer ist die Gefahr solcher Narbeneffekte. So kann zum Beispiel die Arbeitslosigkeit strukturell ansteigen oder die Produktivität der Wirtschaft permanent sinken. Es gibt auch das Risiko, dass die Verluste der Banken aus dem Kreditgeschäft zunehmen. Deswegen müssen wir die zweite Welle so schnell wie möglich überwinden. Aber das ist die positive Nachricht: Wir können das Licht am Ende des Tunnels sehen – beziehungsweise das rettende Ufer. Deswegen ist es so wichtig, dass wir der Wirtschaft in den noch schwierigen Zeiten weiter Brücken bauen. Also geld- und fiskalpolitisch?Geld- und Fiskalpolitik arbeiten derzeit im Tandem – anders als in vielen früheren Krisen. Für den EZB-Rat ist klar und zentral: Wir müssen alles Nötige tun, um die günstigen Finanzierungsbedingungen zu erhalten – für die Privathaushalte, für die Unternehmen, aber auch für die Staaten. Wir stellen so sicher, dass sich die Krise nicht weiter verschärft, und wir schaffen die Voraussetzung dafür, dass sich die Wirtschaft später erholen kann. Noch viel wichtiger aber ist, dass die Fiskalpolitik die Wirtschaft unterstützt. Deswegen ist der Wiederaufbaufonds der EU – “Next Generation EU” – so wichtig und die jüngste Einigung der Staaten so essenziell. Diese Gelder können in den nächsten drei Jahren die nötige Modernisierung der Volkswirtschaften vorantreiben. Es ist zentral, dass wir die längerfristigen Herausforderungen nicht aus dem Blick verlieren. Was meinen Sie da genau?Wir müssen jetzt alles tun, um die Pandemie und die Wirtschaftskrise zu überwinden. Zugleich müssen wir aber an die Aufgaben der Nachkrisenzeit denken. Die geringe Produktivität etwa ist seit langem ein Problem, und sie bleibt eine Herausforderung. Das Gleiche gilt für den Übergang zu einer digitalen und nachhaltigen Wirtschaft. Und das gilt auch für die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen. Das heißt konkret?Wir haben zum Beispiel in Finnland eine erhebliche strukturelle Nachhaltigkeitslücke in unseren öffentlichen Finanzen. Deswegen: In diesem und im nächsten Jahr braucht es einen erheblichen fiskalischen Stimulus, um die Wirtschaft, also die Haushalte und Unternehmen, zu unterstützen. Alle Maßnahmen müssen aber gezielt und temporär sein. Diese sehr expansive Fiskalpolitik muss enden, wenn die Krise vorüber ist. Dann gilt es wieder, die Nachhaltigkeitslücke zu schließen. Sie gehören also nicht zu jenen Ökonomen, die öffentliche Schulden angesichts der rekordniedrigen Zinsen für längst völlig unproblematisch halten?Ich bin noch nicht zur Modern Monetary Theory konvertiert. Die Anhänger dieser Theorie argumentieren im Kern, dass sich Länder mit eigener Währung keine Gedanken um ihre Verschuldung machen müssen, weil sie quasi unbegrenzt von ihrer Notenbank finanziert werden können. Weniger radikale Ökonomen argumentieren zumindest, dass die Zinsen dauerhaft niedrig bleiben werden und deswegen öffentliche Schulden wenig problematisch seien.Die Zinsen werden eines Tages wieder steigen. Das gilt es bei allem Brückenbauen im Kopf zu behalten. Gesunde Staatsfinanzen sind auch weiterhin ein hohes Gut. Tut die Fiskalpolitik in Europa genug in der Krise? Das Volumen des Corona-Wiederaufbaufonds von 750 Mrd. Euro stammt aus dem Sommer, als die Lage deutlich besser war. Und andere Regionen sind aktuell schon beim zweiten oder dritten Konjunkturpaket.Man muss auf die Eurozone und auf Europa insgesamt schauen. Der größte Teil der kurzfristigen fiskalischen Unterstützung kommt von den Mitgliedstaaten. Deutschland beispielsweise tut eine Menge, um die deutsche Wirtschaft fiskalisch zu unterstützen, und das ist ein ganz wichtiger Teil der europäischen Antwort auf die Krise. Der EU-Wiederaufbaufonds ist eine sehr wichtige Ergänzung. Der Fonds wird die Wirtschaft ab nächstem Jahr und dann immer stärker bis ins Jahr 2023 hinein unterstützen. Sie teilen also nicht die Einschätzung, dass Europa den USA oder auch Japan hinterherhinkt?Das sehe ich überhaupt nicht so! Die Unterstützung bewegt sich in den größten Volkswirtschaften in der gleichen Größenordnung. Ich sehe den Wiederaufbaufonds im Übrigen fast im Schumpeter’schen Sinne: Es geht aber nicht um “kreative Zerstörung”, sondern um eine “kreative Verjüngung” der Wirtschaft im Euroraum und in Europa. In der Erholungsphase wird es vor allem auf öffentliche Investitionen ankommen. Genau darauf zielt der Fonds. Würden Sie es befürworten, den Wiederaufbaufonds samt der Möglichkeit für die EU-Kommission, sich in großem Stil zu verschulden, zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen?Als sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf den Fonds geeinigt haben, haben sie klar gesagt, dass sie einen vom Volumen her erheblichen Topf auflegen wollen, dass der aber zeitlich befristet sein soll, also temporär. Klar ist aber auch, wir brauchen langfristig auf EU- beziehungsweise Euro-Ebene ein Instrument, das zur makroökonomischen Stabilisierung eingesetzt werden kann. Als EU-Kommissar hatte ich eine Euro-Fiskalkapazität vorgeschlagen, die entscheidend für das dauerhafte Wohlergehen der Währungsunion wäre. Sie haben das “Tandem” aus Geld- und Fiskalpolitik gepriesen. Wo sehen Sie denn die Grenzen dieser Kooperation oder gar Koordination? Sorgen Sie sich nicht um die Unabhängigkeit der EZB?Koordination ist ein wesentliches Element der Politikgestaltung, weil es auf den Policy Mix ankommt. Koordination bedeutet auch nicht per se einen Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB. Tommaso Padoa-Schioppa, einer der Gründungsväter des Euro und ein ehemaliges EZB-Direktoriumsmitglied, hat einmal gesagt: Unabhängigkeit bedeutet nicht Isolation. Das sind sehr kluge Worte. Es gibt eine klare Aufgabenteilung. Die Fiskalpolitik hat ihre Verantwortung – starkes Wachstum, hohe Beschäftigung, Nachhaltigkeit et cetera. Und wir als EZB-Rat haben das Mandat Preisstabilität. Solange unser Mandat dadurch nicht beeinträchtigt wird, unterstützen wir mit unserer Geldpolitik sehr gerne andere Ziele wie nachhaltiges Wachstum und eine möglichst hohe Beschäftigung. In Deutschland wittern viele Kritiker monetäre Staatsfinanzierung, zumal beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP, das in der Tat bewusst darauf abzielt, im Notfall einzelne Krisenländer wie Italien zu unterstützen.Ich bin sehr vertraut mit diesen Diskussionen und den Sorgen vor fiskalischer Dominanz der Geldpolitik. Die aktuelle Krise ist aber ein sehr gutes Beispiel dafür, wie effektiv eine koordinierte antizyklische Fiskal- und Geldpolitik sein kann. Zugleich gibt es im EU-Vertrag eine klare institutionelle Arbeitsteilung. Meine Kollegen und ich wachen im EZB-Rat sehr streng über unsere Unabhängigkeit! Die Gefahr der fiskalischen Dominanz sehen Sie nicht, dass also die Fiskalpolitik die Oberhand gewinnt und die Geldpolitik nicht länger das Ziel der Preisstabilität verfolgen kann? Bundesbankpräsident Jens Weidmann sagt, dass der massive Anstieg der Staatsverschuldung dieses Risiko viel akuter werden lässt.Ich verstehe die Sorgen vor fiskalischer Dominanz und ich stimme zu, dass wir sehr aufmerksam sein müssen. Aber keine Sorge: Wir werden als EZB-Rat sicherstellen, dass wir jederzeit Preisstabilität sichern können und nicht von der Fiskalpolitik überrannt werden. Was mir mehr Sorgen macht, sind die hohen Schuldenniveaus per se. Die belasten das Wachstum und die Produktivität. Deswegen ist es so wichtig, dass Mittel aus dem Wiederaufbaufonds klug eingesetzt werden. Das Ergebnis dürfen nicht einfach nur höhere Schulden sein. Das Ergebnis muss mehr Wachstum sein. Viele angelsächsische Ökonomen halten die Diskussion ohnehin für übertrieben. Sie argumentieren, dass Zentralbanken im Zweifelsfall auch als Kreditgeber der letzten Instanz für die Staaten agieren müssen – auch die EZB.Die Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz im Bagehot’schen Sinne bezieht sich mehr auf die Abwehr von Marktpanik und Panik im Bankensystem. Das hat nichts damit zu tun, auf Dauer sehr niedrige Finanzierungskosten für die Regierungen zu garantieren. Die Zinsen werden auch mal wieder steigen. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann sicher. Die Regierungen müssen sich dessen bewusst sein und dafür wappnen, dass das aktuelle Umfeld mit Nullzinsen nicht ewig anhält. Erst einmal aber schon. Mitte Dezember hat der EZB-Rat sogar noch ein neues Maßnahmenpaket beschlossen und unter anderem das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) um 500 Mrd. Euro auf 1,85 Bill. Euro aufgestockt und bis mindestens März 2022 verlängert. Zugleich hat die Aussage aufhorchen lassen, dass die 500 Mrd. Euro nicht ausgeschöpft werden müssen. Ist das also eine Art Höchstgrenze?Das zentrale Ziel all unserer Maßnahmen ist, die günstigen Finanzierungsbedingungen noch für längere Zeit sicherzustellen. Wenn es gelingt, diese vorteilhaften Finanzkonditionen zu erhalten, ohne das PEPP-Volumen ganz auszuschöpfen, muss es auch nicht ausgereizt werden. Die 500 Mrd. Euro sind insofern aktuell eine Art Obergrenze. Zugleich haben wir aber ganz klar kommuniziert, dass das Volumen auch noch einmal aufgestockt werden könnte. Das könnte nötig werden, wenn die Pandemie länger als erwartet anhalten und das weiteren Abwärtsdruck auf die Inflation ausüben sollte. Das ist nicht das wahrscheinlichste Szenario. Aber wir müssen auch mögliche ungünstigere Szenarien ganz genau im Auge behalten. Angesichts des EZB-Basisszenarios, das die Inflation im Jahr 2023 nur bei 1,4 % und damit deutlich unterhalb des mittelfristigen Ziels von unter, aber nahe 2 % sieht: Ist es richtig anzunehmen, dass eine weitere Aufstockung wahrscheinlicher ist als ein unvollständiges Ausschöpfen?Wir müssen unser Mandat erfüllen und unser Inflationsziel erreichen. Die Pandemie hat uns jetzt vom vorherigen Pfad in Richtung dieses Ziels abgebracht. Wir halten deshalb ein sehr hohes Maß an geldpolitischer Akkommodierung aufrecht. Und Präsidentin Christine Lagarde hat klargemacht: Wir stehen weiter bereit, falls nötig all unsere Instrumente einzusetzen, um unser Inflationsziel nachhaltig zu erreichen. Das gilt auch nach dem Dezember-Paket. Mitte Dezember hat Lagarde auch gesagt, dass die günstigen Finanzierungsbedingungen der Kompass der EZB seien. Ex-EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hat dagegen stets betont, die einzige Nadel im EZB-Kompass sei Preisstabilität. Folgt daraus, dass das Inflationsziel im aktuellen Umfeld weniger wichtig ist?Der Kompass sind günstige Finanzierungsbedingungen und die Nadel im Kompass ist Preisstabilität. Die günstigen Finanzierungsbedingungen sind also ein Mittel, um das Mandat der Preisstabilität zu erfüllen. Der EZB-Rat hat neben der PEPP-Ausweitung auch bei den Geldspritzen für die Banken, den TLTROs, nachgebessert und nachgelegt. Dagegen hat er die Leitzinsen nicht angefasst und den Einlagenzins bei – 0,5 % gelassen. Heißt das, dass weitere Zinssenkungen trotz anderslautender Forward Guidance nicht wirklich auf dem Tisch liegen? Kritiker argwöhnen, weitere Zinssenkungen könnten eher kontraproduktiv wirken, weil der sogenannte Umkehrzins, die Reversal Rate, erreicht sei.Die TLTROs haben sich als sehr effektiv erwiesen, um sicherzustellen, dass die Banken genug Kredite an die Realwirtschaft vergeben. Deswegen gehören sie weiter zu unseren Hauptinstrumenten. Was die Reversal Rate betrifft: Es ist schwer zu sagen, wo dieser Zins genau liegt. In jedem Fall liegt er niedriger als vor der Weltfinanzkrise allgemein gedacht. Unsere Forward Guidance ist aber absolut eindeutig: Wir sehen die Leitzinsen absehbar auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau. Das zeigt deutlich, dass aus unserer Sicht die Reversal Rate noch nicht erreicht ist. Wie gesagt, wir sind falls nötig bereit, all unsere Instrumente zu nutzen und anzupassen – und das gilt auch für die Leitzinsen. Daran sollte es keinen Zweifel geben. Und die Zinssenkung kommt dann zum Einsatz, falls der Euro weiter aufwerten sollte?Sie wissen sicher genau, dass die EZB kein Wechselkursziel hat. Wichtig zu berücksichtigen ist auch, dass die jüngste Aufwertung stark von Faktoren auf Seiten des Dollar getrieben ist. Das heißt aber nicht, dass die Aufwertung nicht von Bedeutung ist. Sie führt beispielsweise zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Der Wechselkurs beeinflusst den Wachstums- und Inflationsausblick und ist damit ein wichtiger Parameter beim Erreichen des Inflationsziels. Wir beobachten die Wechselkursentwicklung sehr genau, und wir werden das auch in der Zukunft tun. Das zweite große Thema für die EZB ist derzeit die Überprüfung der geldpolitischen Strategie. Läuft es beim Inflationsziel auf eine Änderung hinaus in Richtung eines Punktziels von 2 % mit einer explizit symmetrischen Auslegung, dass also ein Unterschreiten genauso bekämpft wird wie ein Überschreiten?Ich kann nicht für den EZB-Rat sprechen. Wir befinden uns zudem mitten in der Debatte. Da müssen Sie sich gedulden. Aber als EZB-Ratsmitglieder sollten wir die Debatte stimulieren. Insofern sage ich Ihnen gerne etwas über einige meiner Ansichten. Gerne!Im gegenwärtigen Umfeld mit niedriger Inflation, negativen Nachfrageschocks und niedrigen Zinsen ist die zentrale Frage für die Geldpolitik, wie sichergestellt werden kann, dass die Inflation und die Inflationserwartungen nicht dauerhaft unter das mittelfristige Inflationsziel abdriften. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Risiko einer zu niedrigen Inflation zu verringern und die Inflationserwartungen zu erhöhen: Erstens durch eine klare und wirklich symmetrische Definition von Preisstabilität und zweitens durch eine Reaktionsfunktion, die das Bekenntnis zur Symmetrie unterstreicht und die erhöhte Wahrscheinlichkeit berücksichtigt, dass die Geldpolitik die effektive Zinsuntergrenze erreicht. In diesen Kontext gehört auch die Debatte über die Vorteile sogenannter “Nachholstrategien”. Also der Ansatz, in der Vergangenheit zu niedrige Inflationsraten durch über dem Ziel liegende Raten in der Zukunft auszugleichen. Diesen Ansatz verfolgt auch die US-Notenbank mit ihrem neuen “Average Inflation Targeting”. Ist das ein Vorbild für die EZB?Der neue Ansatz der Fed ist das Ergebnis umfassender analytischer Arbeit in der Notenbank und in der Wissenschaft. Natürlich müssen wir als EZB unsere eigenen Entscheidungen treffen, basierend auf den Bedingungen im Euroraum. Aber natürlich profitieren wir sehr von der intellektuellen Debatte in den USA. Als EZB-Rat operieren wir auch nicht in einem Vakuum – weder bei der Geldpolitik noch bei der Strategieüberprüfung. Und es gibt sehr wohl auch einige wichtige Parallelen zwischen den USA und der Eurozone. Das gilt insbesondere für die Verflachung der Phillips-Kurve. Die Strategie des Average Inflation Targeting hat Vorteile, und es ist für uns absolut sinnvoll, uns das genau anzuschauen. Eine andere viel diskutierte Frage ist, welche Rolle die EZB im Kampf gegen den Klimawandel spielen soll. Wie schätzen Sie insbesondere eine “grüne” Geldpolitik ein, also zum Beispiel die explizite Bevorzugung grüner Anleihen bei den Anleihekaufprogrammen?Es ist sehr verlockend, von den Zentralbanken immer mehr zu verlangen. Das gilt beim Klimawandel und vielen anderen Themen. Aber diese Forderungen beinhalten oft ziemlich komplizierte Trade-offs. Es geht auch um die Unabhängigkeit der EZB und um unsere Fähigkeit, letztendlich Preisstabilität zu gewährleisten – was unser Hauptziel ist. In der Tat ist der Kampf gegen den Klimawandel in erster Linie eine Aufgabe der nationalen Regierungen und der demokratischen Institutionen. Aus der Sicht des Ökonomen wäre die beste Lösung eine globale CO2-Steuer oder ein globaler Preis für CO2. Aber das heißt, bei einer explizit “grünen” Geldpolitik wären Sie vorsichtig?Das ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Wir müssen schauen, wie klimabezogene Themen in die EZB-Strategie und damit möglicherweise auch in die Umsetzung der Refinanzierungsgeschäfte und der Anleihekaufprogramme einbezogen werden können. Solange grüne Ziele nicht unser Preisstabilitätsmandat gefährden, sollten wir unseren Teil der Aufgabe erfüllen. Aber die Hauptverantwortung liegt wirklich auf den Schultern der nationalen Regierungen in Europa und weltweit. Es ist auch wichtig, daran zu erinnern, dass die EZB bereits eine beträchtliche Menge an grünen Anleihen hält, etwa 20 % des zulässigen Universums. Wir wollen auch keine Marktstörungen verursachen oder grüne Blasen schaffen – so wenig wie Blasen jeglicher anderen Couleur. Zum Schluss noch ein Satz zur Debatte über einen digitalen Euro: Braucht Europa, brauchen die Europäer den digitalen Euro?Ein digitaler Euro bietet eine Reihe von Vorteilen, auch wenn die Bargeldnutzung in Europa nicht so schnell zurückgeht wie andernorts. Es ist wichtig, dass wir in diesem Jahr die Diskussion angestoßen haben und die EZB und das Eurosystem dazugekommen sind. Wir haben in diesem Jahr einen großen Sprung in der Debatte und der Vorbereitung gemacht – vom Nachzügler in Richtung Speerspitze. Wir werden uns weiter damit auseinandersetzen und hoffentlich nächstes Jahr eine experimentelle Phase beginnen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir in den nächsten fünf oder zehn Jahren einen digitalen Euro haben werden. Klar ist aber: Es geht nicht darum, Bargeld zu ersetzen, sondern es zu ergänzen. Das Interview führte Mark Schrörs.