LEITARTIKEL

Falscher Alarm

Der "unzuverlässige Liebhaber" bleibt sich treu. Mark Carney, der Gouverneur der Bank of England, hat diesen Spitznamen nicht ohne Grund von einem britischen Finanzpolitiker erhalten. Zu oft fühlten sich Marktteilnehmer von seinen Aussagen zur...

Falscher Alarm

Der “unzuverlässige Liebhaber” bleibt sich treu. Mark Carney, der Gouverneur der Bank of England, hat diesen Spitznamen nicht ohne Grund von einem britischen Finanzpolitiker erhalten. Zu oft fühlten sich Marktteilnehmer von seinen Aussagen zur künftigen Zinsentwicklung in die Irre geführt. Zu häufig wechselte er die Richtung. Wer sich auf seine Worte verließ, konnte viel Geld verlieren.Umso überraschender ist, dass er noch so viel Gehör fand, als er davon sprach, dass eine geldpolitische Straffung binnen weniger Monate erfolgen könnte. Denn die Falken im geldpolitischen Komitee hatten sich nicht etwa vermehrt. Die jüngste Entscheidung, alles beim Alten zu belassen, fiel mit 7 : 2 Stimmen. Mag sein, dass die Notenbank die Finanzmärkte mit ihren jüngsten Äußerungen dazu bringen will, das Pfund zu stützen. Das würde dabei helfen, den derzeitigen Inflationsanstieg zu bekämpfen.Vielleicht – und das wäre weitaus schlimmer – will man auch nur nicht zurückbleiben, während die anderen G 10-Notenbanken die während der Finanzkrise ergriffenen geldpolitischen Notstandsmaßnahmen wieder zurückfahren. Herdentrieb ist unter Ökonomen ja kein unbekanntes Phänomen, vor allem wenn sie aus dem Wissenschaftsbetrieb stammen. Man wird sich zudem über die Märkte geärgert haben, an denen ungeachtet aller versuchten Feinsteuerung durch die Bank of England der erste Zinsschritt erst für 2020 eingepreist wurde. Einige Bankvolkswirte rechnen nun bereits mit zwei aufeinander folgenden Zinsschritten. Ihre Texte erinnern an die Konvolute der Kreml-Astrologen einer längst vergangenen Zeit. Entgegen allen Beteuerungen, man wolle mehr Transparenz, schafft es Carney immer wieder, so viel Schlamm aufzuwirbeln, dass niemand mehr durchblickt.Der erste Zinsschritt, der im November erwartet wird, wäre nichts weiter als eine teilweise Rücknahme der überzogenen Reaktion der Mitglieder des geldpolitischen Komitees auf das EU-Referendum im Juni vergangenen Jahres. Sie feuerten im August 2016 aus allen Rohren, nachdem sie im Juli – allen anderslautenden Ankündigungen Carneys zum Trotz – auf ihren Händen sitzengeblieben waren. Eine Erhöhung des Leitzinses um 25 Basispunkte ist wohl unvermeidlich, um sich nach so viel Alarm nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Geht es um mehr, wie der Geldpolitiker Gertjan Vlieghe andeutete, könnte das manche dazu verleiten, an eine Trendwende zu glauben. Vlieghe, der sich bislang stets für die lockerste aller möglichen Varianten der Politik ausgesprochen hatte, weiß das, denn er kennt das Geschäft an den Finanzmärkten aus seiner Tätigkeit für den Hedgefonds Brevan Howard. Das Pfund dürfte davon profitieren, der Inflationsdruck sinken. Denn der Preisauftrieb wird größtenteils importiert.Andererseits wirkt das Gerede über steigende Zinsen dämpfend – und zwar stärker, als man bei der Notenbank vielleicht erwartet. Banken fahren die Vergabe von Verbraucherkrediten zurück. Die Kreditnachfrage der Unternehmen ist zurückgegangen, was auf wenig Interesse hindeutet, in Anlagen oder Immobilien zu investieren. Am Häusermarkt treten weniger Käufer auf. Der Dachverband der britischen Handelskammern findet es außergewöhnlich, dass die Bank of England in so einem Umfeld über Zinserhöhungen nachdenkt.Käme es wirklich zu einem zweiten Zinsschritt, könnte die Notenbank schnell dazu gezwungen sein, den Rückwärtsgang einzulegen. Die britische Wirtschaft reagierte zwar anders als von Carney prophezeit auf die Entscheidung für den Brexit. Aber der Aufschwung kommt in die Jahre. Die neuen Beschäftigungsmodelle der Gig Economy, die längst nicht mehr allein von Technologiefirmen wie Uber eingesetzt werden, haben dafür gesorgt, dass eine neue Schicht von Geringverdienern entstanden ist. Die Reallöhne sinken. Die immer wieder beschworene Unsicherheit im Zusammenhang mit dem EU-Austritt dürfte sich in den kommenden Monaten bemerkbar machen.Steigende Zinsen würden über kurz oder lang dafür sorgen, dass Banken die Bewertungen von als Sicherheiten für Kredite hinterlegten Immobilien nach unten korrigieren müssen. Sie würden angesichts der hohen Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte vielerorts Schmerzen auslösen. Daran hat in Großbritannien niemand Interesse, zumal die lockere Geldpolitik einen guten Puffer gegen mögliche Verwerfungen durch den Brexit bietet. Das Gerede von der Zinswende ist falscher Alarm.——–Von Andreas HippinIn Großbritannien steht keine Zinswende an. Aber der Glaube daran stützt das Pfund und mindert damit den Inflationsdruck.——-